Inhaltsverzeichnis

Liste der Raumvorstellungen

Siehe auch Reisebilder und die Liste der Reisemetaphern

Der erlebte natürliche Raum

Im Gilgamesch-Epos, der ältesten Dichtung der Menschheit, besteht der Held insbesondere den Kampf gegen die Natur. Sein Ziel ist es, alle Weltgegenden zu durchqueren, nach dem Leben suchend dort, wo noch nie ein Mensch gegangen ist. Weil er dabei in immer neue Räume vordringt, muss er Pässe über Berge öffnen, Brunnen graben, die Eingänge des Waldes finden, den Ozean überqueren.

Natürliche Übergänge

Natürliche Enden

An manchen Orten ist der Einzelne zurückgeworfen auf sich selbst, isoliert von der Gemeinschaft. Damit verbindet sich das Gefühl der Ausgesetztheit in besonderen geographischen Umgebungen wie:

Sehen: Das Herstellen des Raumes

Der Blick des Menschen sucht in der Natur feste Punkte und schafft Formen, die Ordnung und damit Orientierung ermöglichen, weil sie zum Zeichen werden:

Verloren Gehen - das Verschwinden des Raumes

Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nichtwissen

Der vorgestellte Raum

Tröstlicher als das Nichts und hoffnungsvoller als das Chaos sind Vorstellungen über unbekannte Räume. Manche davon sind als Geflügelte Worte in die Umgangssprache eingegangen:

Der vom Menschen gegliederte Raum

Spuren gliedern den Raum auch dort, wo nie ein Mensch war. In der Vorstellung des Menschen werden sie jedoch zu Fährten hin zu einem begehrenswerten Ziel.
Der Weg zeigt Gewohnheiten an und gliedert den Raum, indem er Ziele der Vorgänger speichert.
Die Bahn ordnet die Natur den menschlichen Zielen unter, indem sie diese gewaltsam verändert.
Der Steinmann ist das erste dauerhaft gesetzte Zeichen des Menschen, das verkündet »Ich war hier«.
Der Raum (die 'geräumte' Fläche im Wald) zeigt an »Hier bleibe ich«.

Erschaffene Räume

Erschaffene Übergänge

Erschaffene Enden

Standpunkte des Menschen im Raum

Die Vorstellung des Raumes zerfällt für Sesshafte in den bekannten, befriedeten (umzäunten) Raum und in die Wildnis; der Einzelne verlässt die Gemeinschaft ohne die Bindung an sie aufzugeben. Hier ist Oikumene, dort ist es öd und wüst, eben (menschen-)leer, ungeachtet der Landschaftsform als Wüste, Wald, Busch, Berge, Ozean.

Punkte & Richtungen

Ränder

Räume

Der konstruierte Raum

Raum zu konstruieren setzt Beobachtungen voraus, die der Erfahrung bedürfen und daraus folgend Hypothesen über Raumvorstellungen, die durch Messungen falsifiziert werden. Solche Vermessung wurzelt im Abstecken von Land und im Bau von Gebäuden, schreitet fort über Wegebau zur Geographie und ist Voraussetzung für Kartographie.
Anaximander (610–546 BC) war der Erste, der Erde, Welt und Kosmos in einen nicht-mythischen, sondern sachlich-räumlichen Zusammenhang stellte. Europa erscheint bei ihm erstmals als Einheit. Nach Cicero (106–43 BC) postulierte er als Erster die Kugelgestalt der Erde, siehe Weltbild.
Die gedachte Landschaft wird zur Karte mit neuen Merkmalen. Erst die geographisch gedachte Erde hat Pole, einen Äquator, Wendekreise, Breiten- und Längengrade, die man wandernd nicht in der Landschaft sehen kann. Den Raum mit der Zeit verbindend, lassen sie sich jedoch messen, etwa wenn die Sonne am Äquator senkrecht steht oder wenn mit einem Gnomon die Schattenlänge bestimmt wird.

Artefakte von Raummodellen

»Weiße Flecken« erscheinen als Artefakt der Kartographie, wenn durch sie Räume als Konstrukt des Modells entstehen, über die man nichts weiß.

Der paradoxe Raum

Leere

Das Loch ist eine Raumerfahrung etwa als Eingang zur Höhle, setzt aber immer eine Umgebung, mindestens einen Rand, voraus. `Rand´ dient bereits als Abstraktion, denn der Rand des Himmels ist der Horizont, der Rand des vertrauten Territoriums die Peripherie. Die Leere wartet hinter dem Rand, gesteigert noch durch die Vorstellung des Raumes als einem Nichts ohne Rand und Ende und erschreckt die Menschen seit je:

Die Philosophie erkannte daher für richtig, dass es keinen Raum ohne Ort gibt und keinen Ort ohne Raum. Die moderne dreidimensionale Auffassung eines Raumes (Höhe, Breite, Tiefe) lässt sich in den lateinischen Vermessungstexten der Antike jedoch nicht finden, diese reduzieren Raum immer auf Flächen und Linien.

Der Punkt: Ort & Topp

Etymologisch gesichert ist, dass dem `Ort´ die Vorstellung einer feinen Spitze zugrundeliegt und ebenso dem niederdeutschen `Topp´ (Proto-germanisches *toppa) die Stelle, die ein Finger berührt, beides wird abstrahiert zum Punkt. Der `Ort´ (belegt ab dem 8. Jh.) führt zurück auf germ. *uzda- ‘Spitze’ (DWDS) und wird übertragen auf alles hervor-/hinausragende wie den Ortgang am Dach, den Ruhrort am Rhein, den Ort am Ende des Stollens - »ausgesetzte« Orte, die mit Furcht besetzt sind.
Danach erst bezeichnete Ort den Raum, wo man sich niederlässt: einen Platz, eine Stelle, ein Dorf, und ist damit synonym zu Ecke, Ende, Winkel - also an einem Ort, der einerseits Schutz verspricht und andererseits kein Entkommen ermöglicht.

Über den 'Punkt' bedeutungsverwandt ist das niederdeutsche Topp, das sich von toppen, tippen als punktueller Berührung ableitet. Top berührt sich mit Spitze, Hügel und Steinmann: protogermanisch *wartǭ > Varða `Steinmann´, Sanskrit वर्ष्मन् varṣman `top, Spitze, Gipfel´, litauisch viršus `top´, kirchenslawisch врьхъ vrĭxŭ `top, Spitze´ < PIE *wérsmn̥ `Hügel, Spitze, *wers- `aufstehen, Spitze´.

Die Strecke: Abstand & Zwischenraum

Der Abstand zwischen zwei Punkten lässt sich als Strecke messen. Er wird aber zum Zwischenraum, wenn nur ein Punkt bekannt ist. Der Zwischenraum ist ein Drittes, siehe auch Zwillingsformeln.

Die Fläche: locus & topos

Für das lateinische `locus´ 4) findet sich keine sprachliche Wurzel im Lateinischen 5), ebensowenig für τόπος tópos im Griechischen. Gemeinsam ist beiden jedoch die Vorstellung einer Fläche.

Der Topos genießt umfassende Aufmerksamkeit als schillernde Metapher. Dieser muss jedoch etwas Konkretes vorangegangen sein. Welche anfängliche Vorstellung dem `topos´ zugrunde liegt, lässt sich anhand der Bedeutungen der Metaphern nur ahnen.

Das Abmessen und Zuteilen unerschlossener Landflächen (tap-tû-ú, taptû `Neubruchland´) 6) war im Zweistromland bis etwa 1200 BC gleichbedeutend mit Macht und göttlichen Kräften; danach war das fruchtbare Land verteilt. Das Werkzeug des Feldmessers - Stab und Seil - war Attribut der ältesten Stadtgötter (z.B. Bel-Marduk in Babylon). Für einen solchen Zusammenhang sprechen im Griechischen abgeleitete Begriffe wie τοπάζω `hinzielen´ und τοπεῖον `Tau, Seil´.

Mundus est fabula

Den Raum zu erleben setzt Fortbewegung voraus, also immer wieder einen neuen Aufbruch aus dem vertrauten Raum mit immer neuen Übergängen durch den Zwischenraum als `das Dritte´ bis ans (vermeintliche) Ende der Welt im Zustand des Unterwegs-Seins. Raumvorstellungen sind daher Teil des (soziotechnischen) Handlungssystems »Navigation« und stehen dabei in unmittelbarem Austausch mit Fortbewegung und Orientierung. Am erfolgreichen Ende stehen die Erkenntnis: Ich weiß, wo ich bin (cogito ubi sum) und die Möglichkeit, darüber mit anderen zu kommunizieren.

1)
Schaaf, Ludwig
Encyclopädie der klassischen Alterthumskunde. 5 Bde. Magdeburg, 1837-1839. S. 21
2)
postuliert von Claudius Ptolemäus (100–175) in Geographike Hyphegesis
3)
„topp, m.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=T06866>, abgerufen am 01.07.2022.
„topp“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/topp>, abgerufen am 01.07.2022.
4)
erstmals bei Lucius Livius Andronicus, um 200 BC
5)
de Vaan M.
Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages.
Leiden, Brill, 2008. S. 347.
Höfler, Stefan
Zur Etymologie von lat. laxus ‘locker, weit’.
Philologia Classica 12.2 (2017) 154-159
6)
Spar, Ira, Eva von Dassow, Wilfred G. Lambert
Cuneiform Texts in the Metropolitan Museum of Art: Private archive texts from the first millennium BC.
Vol. 3. Metropolitan museum of art, 1988, S. 21.
Wunsch, Cornelia
Das Egibi-Archiv. I. Die Felder und Gärten.
Cuneiform Monographs, 20. XXXII, 305 S. Groningen 2000: Sytx.