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wiki:krise

Krise

Die Grundgesetze einer Krise:
1. Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
2. Jede Krise passt perfekt zu ihrer Zeit.
3. Keine Krise dauert ewig.

»Krise« und »Kritik« entspringen sprachlich derselben Wurzel, dem altgriechischen Verb krínein und wenden damit den Bedeutungsgehalt von trennen > scheiden > unterscheiden/entscheiden in verschiedener Weise auf verschiedene Gegenstände an, ursprünglich seit dem 16. Jahrhundert im medizinischen Sprachgebrauch

  • für eine Phase des Krankheitsverlaufes im engeren Sinne,
  • später auch für individuell seelische und spirituelle Erschütterungen und
  • individuell schöpferische Stagnation.

Danach übertragen 1) auf:

  • die Struktur eines Dramas im Theater;
  • allgemein auf eine gefährliche Lage;
  • Umbrüche gesellschaftlicher Verhältnisse: politisch, ökonomisch, sozial auch: kulturell, wissenschaftlich, technisch und
  • zuletzt auch für das bedrohte Gleichgewicht in der Natur: Umwelt, Meere, Flüsse, Klima.
  • Zur Begriffsgeschichte siehe ZfL »Krise«

Wann ist Krise?

»Es liegt im Wesen der Krise, dass eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen.« 2) - Diese Erkenntnis stellt darauf ab, dass eine Krise immer erst im Rückblick zu erkennen ist, denn erst im Vergleich von vorher und nachher ist der Höhe- und Wendepunkt erkennbar. Entscheidungen fallen daher immer zu früh oder zu spät. Das steckt auch in der gern benutzten Wendung: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« 3). Schönreden (Illusionen), Wegschauen (Ignoranz) und Verschieben (Prokrastinieren) sind menschlich, verzögern jedoch Entscheidungen. Wer die Zeit für freie Entscheidungen aber nicht nutzt, wird zum Opfer fremder Entscheidungen.

Wolfers, Melanie
Entscheide dich und lebe!
Von der Kunst eine kluge Wahl zu treffen.
München bene! 2020

Verlust von Kontrolle, Macht, Normalität

Als zweites Merkmal einer Krise stellt sich das Gefühl des Kontrollverlustes ein, der Ohnmacht, der Verlust einer »Normalität«. Ein Patient kann sich immerhin in die Obhut des Arztes begeben, der die Situation (scheinbar) unter Kontrolle hat. Aber auch dabei zeigt die Fieberkurve erst im Nachhinein den Höhepunkt der Krise. Sicher ist es kein Zufall, dass der Begriff der Krise erst ab dem 16. Jahrhundert Verbreitung findet. Gefahren wird es ja auch vorher gegeben haben, Krankheiten natürlich auch. Also ging man früher anders damit um? Ohnmacht kann nur empfinden, wer zuvor Macht ausübte. Kontrollverlust setzt vorherige Kontrolle voraus. Und was ist »Normalität«? Die christlichen Werte - Demut, Leidensfähigkeit und Entsagung - waren vor der *Aufklärung die einzige Krisenmedizin und allen Krisen wurde die Macht des Glaubens entgegengehalten, denn es konnte keine Krisen geben, weil es das *Vertrauenin die Allmacht Gottes gab.

Ungewissheit

Immanuel Kant (1724-1804) schuf die Grundlagen der Aufklärung mit seiner »Kritik der reinen Vernunft«, nahm den Menschen aber eine Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“. Sein Freund Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796), Stadtpräsident von Königsberg, ergänzte: »Es gehört mehr Kraft zum Leiden als zum Tun, mehr Stärke zum Entbehren als zum Genießen.« Für Friedrich Nietzsche (1844-1900) war das Christentum eine Sklavenmoral und es sei Aufgabe des Geistes Demut und Leidensfähigkeit zu überwinden, den »Drachen der Unwissenheit« zu töten. Der moderne selbstverantwortliche Mensch war damit auf sich allein gestellt und allein verantwortlich. Damit beginnt die Erfolgsgeschichte der Krise an sich, deren drittes Merkmal die Ungewissheit ist.

Diese Ungewissheit lässt sich nicht auflösen, jedoch minimieren, indem Überblick geschaffen wird, Wesentliches von Unwesentlichem getrennt. Ordnung erzeugen heißt auch Prioritäten setzen und sich von Unwesentlichem verabschieden, ganz im Sinne des alten Wortes etwas »aufzulesen« im Unterschied zu dem, was liegen bleibt 4). Aufräumen in diesem Sinne entfaltet mehrfach kreatives Potential, denn

  • Altes wird neu entdeckt
  • Ordnen entwickelt Verworrenes
  • neue Strukturen weiten den Blick
  • Raum für Neues entsteht

Verlust & Reinigung

»Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.«
Lehrsatz der Neuen Frankfurter Schule, geprägt von F.W. Bernstein (1938–2018)
in den 1960er Jahren auf einer Autofahrt von Paris nach Colmar
im Beisein von Robert Gernhardt und F.K. Waechter

Auch die Krisen des 21. Jahrhunderts verlangen die Fähigkeit Wesentliches und Unwesentliches klar zu unterscheiden und grundlegende Entscheidungen zu treffen in einer Situation der Ungewissheit. Gelingt dies nicht oder nicht zum richtigen Zeitpunkt, droht die *Katastrophe, also der unkontrollierte Übergang aus einem gestörten Gleichgewicht hin zu einem neuen Gleichgewicht. Dieser Übergang ist mit Zerstörung und Verlust verbunden, erscheint jedoch im Rückblick als Reinigung (Katharsis). Reinigen heißt, Überflüssiges loszulassen, sich erleichtern. Aber was ist überflüssig? Das entscheidet nicht der Verstand, sondern der Körper in einem über die Maßen erregten und erschütterten Zustand, in Fieber, Ekstase, Tanz, Schwitzhütte, Meditation. Reinigung kann nicht aktiv gemacht, sondern muss zugelassen werden.

Grenzüberschreitungen

Kann man das auf gesamtgesellschaftliche Krisen übertragen? Die ekstatischen Methoden setzen die Bereitschaft voraus, Grenzen zu überschreiten. Schließlich hat ja das Gewohnte innerhalb der bisherigen Grenzen erst in die Krise geführt. Die Lösung kann also nicht im Verharren bestehen. Sie kann jedoch auch im Außen nicht gesucht werden, weil wir dort keine Erfahrungen haben. Also müssen zum einen Begrenzungen verändert werden, damit Raum für Neues entsteht und zum anderen muss die Kontrolle aufgegeben werden, damit sich ein neues Gleichgewicht einstellen kann.

Kann man das auf die Corona-Krise übertragen?

Jein, denn zunächst handelt es sich um eine Pandemie - Krisen erzeugt diese erst indirekt.

Erstens: Die Pandemie wurde ursächlich erst möglich durch Grenzverletzungen, nämlich

  • zwischen Zivilisation und *Wildnis und
  • zwischen Mensch und *Tier

Das ist irreversibel, denn zwischen dem Corona-Virus und der Menschheit wird sich jetzt ein neues Gleichgewicht einstellen müssen. Allerdings könnten durch den Schutz von Wildnis und Tieren weitere Pandemien vermieden werden, es wären also neue Grenzen zu errichten. Aus diesem Blickwinkel hatte die Natur eine Krise.

Zweitens: Die epidemische Verbreitung des Virus erfolgt über Infektionsketten und hinterlässt Immune, Erkrankte, Genesene und Tote mit ihren ganz eigenen individuellen Krisen sowie Krankenhäuser und Gesundheitssysteme, die unterschiedlich in die Krise geraten: Mangel an Betten, an Schutzkleidung, an Medikamenten, Infektion des Pflegepersonals und mehr. Nachhaltig wirkt die Erkenntnis, dass die Hauptübertragungswege - Sex, Spiel, Sport, Spiritualität - allesamt auf sozial wichtigen Spassfaktoren beruhen, die es künftig zu vermeiden gilt:

  • viele Menschen, die Nähe Anderer suchend
  • rufend, schreiend, singend, grölend, keuchend
  • in geschlossenen Räumen mit geringem Luftaustausch
  • distanzarm und enthemmt durch Ausgelassenheit und Alkohol

Drittens: Selbstschutz aus Angst vor der Ansteckung bewirkt bei den Menschen Reaktionen, die seit Jahrtausenden ähnlich sind: Distanz zu Anderen, Rückzug ins Private, Flucht aus der Stadt, Hamsterkäufe, Bargeldhortung, Maßnahmen zur Selbstversorgung (Küche, Garten, Haus), erhöhte mediale Aufmerksamkeit usw. Krisen können infolge dieser Reaktionen entstehen: Einsamkeit, Häusliche Gewalt, Verarmung und anderes. Vorteile sind: Stärkung der Familie, Stress entfällt, ToDo-Listen werden abgearbeitet, neue Fähigkeiten erprobt.
Aber nicht alle können so reagieren. Gehamstert haben die Begüterten und Gebildeten.
Und nicht alle wollten so reagieren. Als Superspreader wirkten Großfamilien und esoterische Glaubensgemeinschaften.

Viertens: Betriebliche Vorsorge führt zu veränderten Arbeitsbedingungen: Abstand am Arbeitsplatz, Homeoffice, Video-Konferenzen, zunehmende Digitalisierung - hier entstand Raum für neue Erfahrungen und Möglichkeiten, die nachhaltig positiv wirken können. Krisen entstanden weniger wegen dieser Maßnahmen als vielmehr dort, wo solche Maßnahmen nicht möglich waren: Fleischereibetriebe, Sammelunterkünfte. Auffällig sind die hohen Infektionsraten beim medizinischen und Pflegepersonal. Gesellschaft zeigte sich ein Riss zwischen denen, die zuhause bleiben mussten, und jenen, die systemrelevant ihre Positionen ausüben mussten. Dieser Riss deckt sich überwiegend mit Einkommensunterschieden.

Fünftens: Staatliche Fürsorge und Vorsorge wirkte auf mehreren Ebenen:
Infektionsspezifische Maßnahmen wurden formal in rechtliche Vorgaben gegossen, also Kontaktverbot und Distanzgebot und unterschiedlich umgesetzt: Appelle, Ausgangsbeschränkung, Ausgangssperre, Selbstisolation, Quarantäne, Straßensperren, Ausgeherlaubnis, Kontrollen usw.
Schließen von Schulen, Universitäten, Begegnungsorten jeder Art

Sechstens: Die pandemische Verbreitung des Virus wurde durch die globale Infrastruktur extrem beschleunigt, aber nicht verursacht. Die Reaktion, also das Schließen von Grenzen, Flughäfen, Bahnhöfen usw., verzögert die Ausbreitung lediglich. Krisen entstanden erst als Folge der Maßnahmen. Das Wiederöffnen erfordert zwar in jedem Einzelfall nur technische Maßnahmen. Allerdings wird das Wiederinbetriebnehmen auf Systemebene zu neuen Gleichgewichten führen, etwa bei Einreisebestimmungen, Zöllen, Kontrollen, Lieferketten usw.

Folgen

Kein Mensch ist frei von Sorgen und die Medien sorgen dafür, dass das so bleibt, denn nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten: Krise ist. Immer. Irgendwo.
Betroffenheit auch, zumindest so lange bis man selbst die Krise kriegt. Für Krisenverläufe gilt meist Dornbuschs Gesetz 5), hier frei formuliert:

Bis das Unvermeidliche eintritt, dauert es länger als du denkst;
aber wenn es eintritt, geht es schneller, als du dachtest.

Krise war inflationär bis 2020. Wann sie endet, wissen wir nicht. Wie die Katharsis aussehen wird werden wir wissen, wenn sie vorbei ist. Bis dahin stochern alle mit der Lanze der Vermutung im Nebel der Zukunft: Verändern sich Grenzen? Wie werden wir reisen und leben verbinden können? Zerfällt die EU? Gibt es Inflation oder Deflation? Zerfallen die Städte in Slums, Malls und öde Innenstädte? Wie verändert sich unsere Freiheit? Werden wir von Amazon, Facebook und Google versklavt? Wie verschiebt sich das Leben zwischen *real life und virtual reality?


Literatur

  • Peter Sloterdijk
    Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik
    Suhrkamp Verlag 2009
  • Nikos Kazantzakis
    Askese
    Goldmann Verlag 1927/1973
  • Peter Kingsley
    Reality
    Crotona Verlag 2003
  • Erich Fromm
    Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft
    DTV 1976
2)
Reinhart Koselleck (1923-2006)
Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973
3)
Dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow zugeschrieben. Wörtlich sagte er am 6. Oktober 1989 jedoch: »Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«
4)
Wolf Lotter: Sortierhilfen. Brand Eins 2020-06-18
5)
Rüdiger Dornbusch, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology
wiki/krise.txt · Zuletzt geändert: 2022/09/24 17:31 von norbert

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