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Lebensreisestil

Ach Viktor, nur Reisen ist Leben,
wie umgekehrt das Leben Reisen ist...
Wie glänzet man, wie dichtet, 
wie erfindet und philosophiert man, 
wenn man dahinläuft, 
so wie Montaigne, Rousseau und 
die Meernessel nur leuchten, wenn sie sich bewegen!

Jean Paul, 1797
Das Kampaner Tal, Kapitel 4, 502: Station   

Urlaub auf Balkonien, Interpassivität, Flugscham kann man als Nicht-Reisen-Reisestile betrachten. Aber was ist Reisen? Darauf lässt sich nun wirklich nicht eindimensional, einfach und linear antworten. Die Reisegenerationen der auslaufenden Moderne - zuletzt die digital nomads 1) - eint das unablässige Bemühen Reisen und Leben im Unterwegs-Sein zu verbinden, * Weltanschauung zu er-fahren. Aber wie schauen sie die Welt an und wie geht das weiter?

Lebensstile

Der Soziologe Andreas Reckwitz findet deren roten Faden in einem Bemühen um eine »singularistische Lebensführung« bei Angehörigen der Mittelklasse 2). Diese unterscheiden sich durch Lebensstile und ihr kulturelles Kapital 3). Individualtourist zu sein reicht nicht mehr aus. Das Reisen ist ein Betätigungsfeld für deren distinktiven Lebensstil (neben anderen wie Essen, Wohnen, Bildung, Körperkultur). Diese Felder dienen dazu, das Selbst aufzuwerten und zu bereichern. Aufwertung lässt sich auf zwei Wegen erreichen:

  1. durch Aufmerksamkeit innerhalb einer Gruppe, deren Mitglieder (Follower) ein solches Profil anerkennend teilen (Anzahl der Likes), weil die Attribute dieses Lebensstils formal glaubhaft präsentiert werden (Influencer);
  2. durch Aufnahme in eine Gruppe, die ein solches Profil schätzt, weil die damit verbundenen Werte auf geteilten Erfahrungen beruhen und einen symmetrischen Austausch ermöglichen.

Singularisierung

Der erste Weg beschreibt die Singularisierung, der zweite eine Vergemeinschaftung. Damit entfaltet sich das Selbst in beiden Fällen also mehr oder weniger öffentlich, jedoch hier als Peep-Show vor unbekanntem Publikum ohne Recht auf Vergessen und dort im Verein mit gelegentlicher Selbstentblößung im Festzelt. Die sich bildenden Gemeinschaften sind qualitativ nicht vergleichbar: Hier laufen Follower dem Goldenen Kalb nach, dort bilden sich Kameradschaften, Freundschaften, Liebschaften. Bindung erfolgt hier hier indem die »Statusinvestition« unentwegt wiederholt wird; dort verlagert sie sich von den Attributen ins Zwischenmenschliche. Letzteres wurde jedoch lange als gesellschaftlicher Zwang empfunden, die Singularisierung als Protest dagegen, die Selbstverwirklichung als Weg heraus.

Leute ohne Macke sind Kacke.
Aber manche Macke ist auch Kacke.

Selbstverwirklichung

Für Andreas Reckwitz ist die Selbstverwirklichung als Modell zur Lebensführung fragwürdig geworden, weil sie ihren Gegenpol - das Korsett gesellschaftlicher Zwänge 4) – verloren hat. 1965 fiel auf und provozierte, wer sich eine Blume ins Haar steckte. Heute muss man sich mehr einfallen lassen als eine rote Irokesenfrisur 5). Nach Indien zu reisen reicht jedenfalls nicht. Die Avantgarde der Reisenden nach dem Zweiten Weltkrieg wäre dann bereits über ihr Ziel hinausgeschossen. Das, was vor 50 Jahren Erfüllung bot, führt heute zu Leere, Defiziten, Enttäuschungen. Das Besondere, das reisend erworben wurde, erhielt seinen Wert lange Zeit durch sein Verhältnis zum Allgemeinen, Normalen, Akzeptierten. Doch wo bleibt das Besondere, wenn das Normale sich auflöst? Nach und Nach gingen ehemals wichtige äußerliche Merkmale verloren: Fernreisen, Flugreisen, Geheimtipps, exklusives Know-How. Abenteurer-Nimbus? Aussteiger-Rolle? Exklusivität der Globetrotter? Schnee von gestern.

Selfies & Likes

Die Todesfälle bei Selfies 6) nehmen zu, weil jedes Bild die Einzigartigkeit des Narziss zeigen muss: »Spieglein, Spieglein an der Wand - wer ist die Schönste im ganzen Land?« Dass die Welt nicht nur Bühne ist, entscheidet sich beim Absturz. Nicht das Reisen steht im Vordergrund, sondern wie man dabei rüberkommt und was zurückkommt, Likes zum Beispiel. Doch das reicht nicht mal für ein Strohfeuer, denn nach dem Selfie ist vor dem Selfie. Auch das kann zum Hamsterrad werden - so, wie früher die gesellschaftliche Routine empfunden wurde. Die ersehnte Bestätigung lässt die Erwartungen wachsen und verharrt in diesem Zustand. Enttäuschte Erwartungen sind unvermeidlich, führen zu einem Gefühl von Leere, Defizit, Sinnverlust. Sich auf der Grenze zwischen real life und virtual life zu bewegen führt eben nur ausnahmsweise zu Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod.

Real Life

Welche Bewegung könnte aus diesem Hamsterrad heraus und ins real life hinein führen, Gemeinschaftliches aufwerten und Sinn geben? Das Wesen des Reisens hat mit Neugier und Abenteuer stets dazu beigetragen, Neues in die Gesellschaft zu befördern. Das Internet schien dies besser zu können, doch fehlt diesem nicht nur die Authentizität, sondern es befördert die Täuschung. Nicht zufällig erweisen sich die Wege des Internet als besonders nützlich für Islamisten und Nationalisten, Trumpisten und Putinisten.
Reisende dagegen setzen zur Selbstverwirklichung ihren Möglichkeitssinn (Robert Musil) ein: sie gehen ans Limit, überschreiten Grenzen.
Dass der Mensch sich als Individuum »er-fahren« und Selbst-Bewusstsein entwickeln konnte, ist auch ein wesentlicher Teil der Moderne. Nach der Erfindung des Buchdrucks entwickelte sich das Genre der Autobiographie, deren Autoren häufig ihre Reise-Vita in den Mittelpunkt stellten, wie etwa Johannes Butzbachs Odeporicon (1505).

Authentizität

Bleibe unberechenbar.
Graham Greene (1904 - 1991), Virtue of Disloyalty

»Been there, done that« drückt eine Einstellung aus, die sich mit der Oberfläche zufrieden gibt: Kenne ich, da war ich schon, langweile mich nicht. Wer so reist, hat die Welt schnell abgehakt.

Es ist die * Neugier auf Unbekanntes, die Reisende wieder und wieder in die Welt treibt. Wenn der * touristische Blick überwunden wird, ist nichts, wie es scheint: die Welt lässt sich häuten wie eine Zwiebel und ermöglicht neue Einsichten. Peter Handke nennt dies die »Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt«. Für den Reisenden bedeutet dies, dass er ständig Neues erfahren kann ohne ein Ziel. In Bewegung zu bleiben ist das Ziel und vielleicht ist es der Weltschmerz, der den Reisenden antreibt.

Reinhold Messner beschreibt sich als »Eroberer der eigenen Seele« und Max Frisch (1911 - 1991) antwortet im Tagebuch 1946–1949 auf die Frage »Warum reisen wir? - Damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich ist!« Die Authentizität seiner Erfahrungen macht den Reisenden besonders, ganz gleich, ob die Öffentlichkeit ihm glaubt, applaudiert oder nicht. Die Zufriedenheit kommt von innen - man weiß, was man hat. Den Prüfstein seiner Glaubhaftigkeit bilden andere Reisende. Vor ihnen fliegt jede Lüge sofort auf und unterscheidet die substantielle von der scheinbaren Authentizität. Wohin also geht die Reise?

Einfach leben & reisen

„Wohin denn ich?“
Friedrich Hölderlin, aus der Ode Abendphantasie, Sommer 1799 

Das Reisen ist auch ein Weg weg vom Überflüssigen, denn wer reist wirft Ballast ab. Unterwegs erfahren Reisende, wie wenig man wirklich benötigt und was wirklich wichtig ist. Die materielle Entlastung ermöglicht ein Gefühl der Befreiung. Doch alles, was man behält, ist um so wichtiger. Es zu behalten bedeutet auch, es zu sichern und zu pflegen. Die Dinge loszulassen führt paradoxerweise zu größerer Verantwortung, zu mehr Kompetenz sich in einer fremden Welt zu behaupten.

Nichts besitzen zu wollen ist auch ein Lebensstil der Generation Smartphone. Das Smartphone sichert jedoch die ständige Verfügbarkeit mittels Flatrate und Streaming, mittels Sharing-Dienst und Lieferservice. Tatsächlich will man also jederzeit alles nutzen können, jedoch Pflichten, Verantwortung und Verbindlichkeiten meiden. Die Dinge loszulassen führt zu weniger Verantwortung, zu Kompetenzverlust und der Unfähigkeit außerhalb des Netzes zu leben.

Die Sehnsucht nach dem »Einfachen Leben« ist verbreitet und verständlich angesichts der mannigfachen Sachprobleme, die kognitiv kaum zu durchdringenden sind und begleitet werden vom Sirenengeheul des Weltuntergangs und des dringlichen Handlungsbedarfs, da es ständig 5 vor 12 ist. Reiseerfahrungen fördern den Traum vom * einfachen Leben, hin zu Bescheidenheit und Autarkie; Ansätze dazu finden sich über das * FIRE-Konzept, * Selbstversorgung Do-It-Yourself, Maker Movement. Reisende müssen sein fähig zum * Frugalismus und viele integrieren dies in ihren * Lebensreisestil.

Infantilismus oder universelle Verantwortung

Wer in unserem Zeitalter `frei´ sagt, beansprucht das individuelle Recht, von jeder Verpflichtung, von jeder Verhaltensregel frei zu sein, also als Einzelner sittlich entfesselt unterwegs zu sein anstatt ortsgebunden treu und gesittet, nicht mehr im Gleichgewicht zwischen Philobatie und Oknophilie.

Der Held des Internet-Zeitalters ist autistisch veranlagt 7), also ein genialer Außenseiter, der sich einerseits ausgegrenzt fühlt und andererseits selber ausgrenzt, weil er den Rest der Welt für Idioten hält, kurz: autistische Soziopathen mit Geltungsdrang, wie etwa im Film The Social Network von David Fincher (USA 2010) gezeigt wird.

Kinder unterscheiden sich von Erwachsenen dadurch, dass ihr Selbst identisch ist mit ihrer Welt; sie sind glücklich mit sich: »ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt« (Pippi Langstrumpf).
Erwachsenwerden ist dagegen schmerzhaft und verbunden mit der Öffnung der Blase, mit dem Bewusstsein für andere, sozialer Verantwortung für Partner, Familie, Freunde, Nachbarn, Gesellschaft. »Das ist die Spannung zwischen Welt- und Selbstlosigkeit, die jeder aushalten können muss.« 8). Viel verlockender ist die Möglichkeit, durch mehr Infantilität zur maximalen Lusterfüllung zu kommen wie die `Schweinchen des Euripides´, weit entfernt vom »einfachen leben« im Sinne eines Frugalismus.

Der Kreis schließt sich

Die einen wollen, dass alles bleibt, wie es ist, und brechen nicht auf. Die anderen brechen alles auf und wollen, dass nichts bleibt wie es war: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert“ - so übersetzt Charlotte Birnbaum eine Passage im Roman „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957) 9).
(Sanskrit, n., संसार, saṃsāra; Pali: saṃsāra; wörtlich: Als »beständiges Wandern«, sanskrit `Samsara´ bezeichnen die indischen Religionen den Kreislauf von Werden und Vergehen und so gilt ihnen das Leben als Wandermönch als die höchste Lebensform. Ähnlich sahen das die griechischen Kyniker und auch Christus sprach ein Aussendungsgebot aus und sandte seine Jünger per pedes apostolorum.


1)
Tsugio Makimoto, David Manners
Digital Nomad
John Wiley & Sons, 1997, ISBN 0-471-97499-4
2)
Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Zum Strukturwandel der Moderne
5. Auflage. Suhrkamp, Berlin 2018, ISBN 978-3-518-58706-5
3)
Christoph Köck
Abenteuerreisen als kulturelles Kapital
in: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.): Tourismus - Kultur. Kultur - Tourismus
Münster, Hamburg 1993: LIT-Verlag, S. 191 ff.
4)
Ariane Barth
Die Globetrotter: Aus allen Zwängen fliehen
Der Spiegel 01.04.1983
5)
Sascha Lobo
Abschied von der Utopie: Die digitale Kränkung des Menschen
FAZ 25. Mai 2014
6)
Selfies: A boon or bane?
J Family Med Prim Care. 2018 Jul-Aug; 7(4): 828–831
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6131996/
doi: 10.4103/jfmpc.jfmpc_109_18
7)
Jacqueline Thör
Verschlossen und hochbegabt. Der geniale TV-Autist lebt unsere geheimen Träume
DIE ZEIT Nr. 46 9. November 2017
Nicole Karafyllis
Am liebsten ordentlich und einsam
FAZ 22.12.2010
8)
Robert Harrison über Wohlstandsbürger:
»Nehmen gilt als Menschenrecht, das Geben ist bloss für die Doofen«
NZZ 15.04.2019
9)
S. 32 in Kapitel 1: Tancredi zu Fürst Salina, Piper-Verlag, 1959