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Imaginäre Reisen

Das Imaginäre ist das, was dazu neigt, 
verwirklicht zu werden.
L’imaginaire est ce qui tend à devenir réel.
André Breton (1896–1966)
Le revolver à cheveux blancs, 1932 

Imaginäre Reisebeschreibungen (frz. voyage imaginaire) sind eine beliebte literarische Methode. Sie imitieren »authentische« Reisebeschreibungen und sie bedürfen eines besonderen Ortes als Reiseziel, also entweder ein phantastischer Ort oder ein realer Ort, der Phantasien auslöst. Darüber hinaus lassen sich Varianten erkennen.

Versuch einer Typologie

  1. Eine angeblich echte Reisebeschreibung nutzt Weiße Flecken auf der Landkarte, die schwer erreichbar sind (die unbekannte Insel, das versteckte Tal) und über die man wenig weiß im Unterschied zum Autor mit seinem exclusiven Wissen, also sind diese Beschreibungen nicht zu verifizieren und erscheinen als denkbar und möglich. Im 17. und 18. Jahrhundert gab es noch viele Möglichkeitsräume, zugleich stand der Sinn nach Entdeckungsfahrten. Besonders beliebt waren dabei die »Antipoden«, also Inseln und Kontinente am anderen Ende der Welt, dort, wo heute die Südsee-Inseln, Neuseeland, Australien und Antarktis auf der Karte zu finden sind. Fiktion und Fakten verschmelzen bei dieser Methode, werden zu fake news. Die Leser ahnen es, genießen jedoch die Illusion an der Grenze von Phantasie und Wirklichkeit.
    • Mandeville, John
      Die Wunder der Erde: die Reisen des Ritters Jean de Mandeville
      Originalgetreue Faksimile-Edition der Bildhandschrift Fr. 2810 („Livre des merveilles“), Folios 141-225, aus der Bibliotheque nationale de France in Paris (engl.: The marvels of the world: the travels of Jean de Mandeville)
      1 , 141-225 Bl., Folioformat 44 cm und Kommentarband 302 S. Simbach: Verlag Müller und Schindler; Madrid: Eikon Editores, 2017
      Die Vorlage wurde in Paris zwischen 1410 und 1412 gedruckt. Mittelfranzösischer Text ins Englische übersetzt von Siegbert Himmelsbach und kommentiert von Eberhard König, Dieter Röschel, Gabriele Bartz.
  2. Eine fiktive Reisebeschreibung dagegen wird als solche gekennzeichnet und dient als Roman, Erzählung, Märchen den versteckten Intentionen des Autors etwa als Kritik oder Gesellschaftsentwurf. Perspektivwechsel verfremdet die Welt und die Reisenden mit satirischer Absicht.
    1. Für den Perspektivwechsel wird eine Kunstfigur geschaffen und auf die Reise geschickt. Diese bedient Stereotype und verfremdet den Reisenden, wie etwa:
      1. Ludwig Wagehals
      2. Schlemihl
      3. Gargantua und Pantagruel
      4. Robinson
    2. Das Reiseziel wird verfremdet, indem klischeehafte Vorstellungen der Welt bedient werden, etwa Bild Afrikas oder die Vorstellungen vom Orient.
    • Um 150 BC Reise zum Mond von Lucianus Samosatensis
      Zum Mond und darüber hinaus: Ikaromenippos.
      Übersetzt von Christoph Martin Wieland Zürich 1967: Artemis.
    • Schönlau, Rolf
      Mondreisen von Lukian bis Wikitravel.
      Holzminden Verlag Jörg Mitzkat 2015, darin:
      1516 Astolfo auf dem Mond; 1609 Keplers Traum-Astronomie; 1638 Der fliegende Wandersmann nach dem Mond; 1657 Cyranos Mondstaaten; 1705 Defoes Bericht über allerlei Vorgänge auf dem Mond; 1791 Reisen mit dem Finger auf Schröders Mondkarten; 1835 Hans Pfaalls Mondfahrt; 1870 Jules Vernes Reise um den Mond; 1901 Die ersten Menschen auf dem Mond.
    • Georg Friedrich Rebmann (1768 - 1824)
      Kreuzzüge durch einen Teil Deutschlands
      (=Klassische Reisen) Hg.: Heinz Weise (Nachwort) Leipzig. 208p 1 Titelbild, Textzeichn. Glossar, Leseband
      VEB F.A. Brockhaus 1990
      Eines der respektlosesten Reiseberichte des Protagonisten deutscher Aufklärungsideale und französischer Revolutionsziele in süd- und mitteldeutschen Ländern als Ausdruck seiner Reisen 1792-1794. Rebmann reist in der Romantik sehr unromantisch, nämlich scharfsinnig und scharfzüngig Missstände aufspießend auf seinen Wegen durch Süd- und Mitteldeutschland. Unter anderem schrieb er »Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands« und die Satire »Hans KiekindieWelts Reisen in alle vier Erdteile und den Mond«
    • Bürger, Gottfried August
      Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt.
      Mit den Holzschnitten von Gustave Doré. 184 S. Abb. (=it 207) Frankfurt am Main 1997: Insel
  3. Die Beschreibung eines fiktiven Ortes als Utopie nutzt diesen dagegen als Projektionsfläche eigener Vorstellungen für eine (bessere) Gesellschaft. Elemente der Reisebeschreibung können als Stilmittel genutzt werden.
    • 5. Jhdt. BC Atlantis von Platonin: Timaios und Kritias
    • Oliver Kohns, Ourania Sideri
      Mythos Atlantis. Texte von Platon bis J. R. R. Tolkien.
      Stuttgart 2009: Reclam, ISBN 978-3-15-020178-7.
    • 1516 Utopia von Thomas Morus (auch: More), (1478 - 1535)
    • Die älteste Karte von Utopia zeichnete Abraham Ortelius (1527 bis 1598) um 1596 1) und nutzte dazu Dutzende von Ortsnamen aus dem Werk Utopia von Thomas Morus.
    • 1627 Nova Atlantis von Francis Bacon (1561 - 1626)
  4. Eine vielleicht sogar reale Reise führt zu zwar realen Zielen (»Formosa«, »Grönland«, »Labrador«, »Spanien«), jedoch wird die Reisebeschreibung zur Fiktion mit realen Elementen, etwa durch surreale Reiseerlebnisse oder Perspektivwechsel, und kann so alles werden, auch Komödie, Parodie, Satire, Horror- oder Kindergeschichte.
    • Grigorʹev, Sergej T.
      Die Weltreise.
      Ill. von Werner Reifarth. Dt. von Alice Wagner. 160 S.Berlin Verl. Kultur u. Fortschritt 1949
      Eine dreitägige Bootsfahrt auf dem Wolgabogen, die durch Perspektivwechsel als kühne Expedition erlebt wird.
    • Serres, Michel
      Hermes V. Le Passage du Nord-Ouest.
      Paris 1968-1980: Les Éditions de Minuit.
      Aus dem Französischen von Michael Bischofff: Die Nordwest-Passage. Berlin: Merve 1994.
      Die für die Schifffahrt komplizierte Nordwest-Passage mit ihrer klimatisch unberechenbaren Befahrbarkeit dient als Vehikel für den Erkenntnisfortschritt.
  5. Der Autor beschreibt eine Reise ins Selbst, die für ihn selbst real erscheint, den Außenstehenden jedoch surreal, also Kunst ist und/oder auf Erlebnissen unter Drogeneinfluss, Traumreise, Psychose, Wahnvorstellung beruht.
    • Castaneda, Carlos
      Reise nach Ixtlan. Die Lehre des Don Juan.
      Aus d. Amerikan. von Nils Lindquist. 252 S. Frankfurt am Main Fischer 1976
    • Wölfli, Adolf
      Geographisches Heft No. 11.
      Bearbeitet von Elka Spoerri und Max Wechsler. Herausgegeben von der Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern. 275 S. Stuttgart 1991: Hatje.
  6. Mit dem Road Movie entstand eine neue Ausdrucksform imaginärer Reisen:
    • Le Voyage Imaginaire, Stummfilm Frankreich 1925, Regie: Rene Clair.
      Der Filmpionier Georges Méliès 2) drehte die Stummfilme:
    • 1902: Le voyage dans la lune Die Reise zum Mond (Nr. 399–411)
    • 1902: Le voyage de Gulliver à Lilliput et chez les géants (Nr. 426–429)
    • 1902: Les aventures de Robinson Crusoé (Nr. 430–443)
    • 1904: Le voyage à travers l’impossible Die Reise durch das Unmögliche (Nr. 641–659)
  7. Im Unterschied zu Imaginären Reisen (engl. imaginary voyage) führt virtuelles Reisen (engl. virtual voyage) ohne physische Ortsveränderung in eine künstliche Welt, die entweder als wirklich erlebt wird oder aber ein wirklichkeitsnahes Abbild der Welt ist, dokumentarisch oder ethnographisch beschreibend.

Der so geschaffene Phantasieort ist Utopie im eigentlich Wortsinne als Ort, den es nicht gibt. Darüber hinaus kann er Utopie im Sinne eines gesellschaftlichen Gegenentwrfs sein, aber auch illusionistische Unterhaltung über abenteuerlich Reisende bieten, die man gerne und unhinterfragt genießt. Der Reisebericht als Chronik ist informativ, präzise, gehaltvoll - aber langweilig. Muss also, wer unterhalten möchte, einen fiktiven Reisebericht schreiben? Die reale Suche nach dem »great south land« zeitigte zahlreiche phantastische Visionen des Denkbaren (Reisen zum Mond) und Wünschbaren (Fliegender Teppich), die Träumen, Ängsten und Hoffnungen entsprangen und dadurch erkennen lassen, was man sich von der Welt erhoffte.

Literatur

1)
380 x 475 mm, Plantin-Moretus Museum, Antwerpen:
»Ad Spectatorem.|En tibi delicias mundj:| regna ecce beata!|Queis melius, queis nil pulchrius orbis habet.|haec illa Vtopia est; arx pacis;nidus Amoris,|Justitiae, ac summi portus et ora bonj.|Lauda alias terras: istanc cole qui sapis. Isto|Vel nullo fixa est Vita beata loco.|I.M.W. à W.f.|Lustrauit Raphael: Descripsit Morus: Abrahamus
2)
Jacques Malthête, Laurent Mannoni (Hrsg.): Méliès. Magie et cinéma. Paris musées, Paris 2002, ISBN 2-87900-598-1, Katalog zu gleichnamigen Ausstellung, 26.04.-01.09.2002