Inhaltsverzeichnis
Fortbewegung
Die Fortbewegung im Raum ist ein Teilsystem der Navigation wie auch
- Orientierung bezüglich des Sonnenstandes, also Himmelsrichtungen und Tageszeit.
- Positionsbestimmung des Standortes bezüglich anderer Landmarken.
- Zielsetzung, also Wahl eines Zielortes oder einer Richtung mit unbekanntem Ziel.
- Routenplanung, also eine gedachte Folge von Strecken und Richtungen (Wayfinding Choremes).
- Wegfindung, also Entscheidungen, die Routenplanung und Wahrnehmung harmonisieren.
- Monitoring und Verirren.
Handlungsformen des Unterwegs-seins
Die Fortbewegung (engl. locomotion, lat. loco `vom Ort´ + motio `bewegen´; franz. deplacement) ist mehr als nur Bewegung und damit Voraussetzung für die Formen des Unterwegs-seins (Reise, Fahrt) des Menschen (Homo sapiens). Sie beruht ursprünglich und ausschließlich auf dem Gehen (selbständig als Homo viator) und dem Getragenwerden (Homo portans), bevor sich der Hund dem Menschen anschloss und diesen anregte Nutztiere zu domestizieren, die für ihn Lasten auf Fuhrwerken zogen.
- Im Vordergrund steht hier das selbständige „sich-fortbewegen“ verbunden mit „in eine bestimmte Richtung“, also von einem bestimmbaren Ausgangsort hin zu etwas, einem durch Absicht entstandenen Ziel, das jedoch kein bestimmter Zielort sein muss.
- Ein anhaltendes Unterwegs-sein setzt eine ökonomische Fortbewegung voraus: einen rhythmischen Gang. Das Erschließen des Raumes steht an erster Stelle (→ Raumvorstellungen), nicht die Zeit, denn weder Kriechen noch Rennen bestimmen das Unterwegs-sein des Menschen.
- Als Landlebewesen ist der Mensch ein Gehender auf dem festen Boden. Erst die technischen Mittel ermöglichen erweiterte Arten der Fortbewegung durch den Raum.
- Das setzt in jedem Fall eine Richtung voraus, also Orientierung, die durch Absichten und Möglichkeiten bestimmt wird:
Manche Fortbewegungsverben (frz. verbes de déplacement) im Sinne von unterwegs-sein weisen einen iterativen Handlungskreis auf, der sprachlich abstrahiert als Nomen erscheint und nachfolgend metaphorisch verwendet wird in Reisebild und Weltbild:
Handlung | gehen | senden | fahren | reiten | reisen | wandern | wallern |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Adverb | gehend | gesandt | fahrend | reitend | reisend | wandernd | wallernd |
Nomen | Gang | Sendung | Fahrt | Ritt | Reise | Wanderung | Wallfahrt |
Subjekt | Gehender | Gesandter Bote | Fahrender | Reiter | Reisender | Wandernder | Waller > Pilger |
Objekt | Stab | weißer Stab | Boot? > Reitwagen | Reittier | Rüstzeug> Ausrüstung | Wanderstock | walu-berа `Stabträger´ > Pilgerstab |
neue Bedeutung | Sinn | fertig Gefahr Gefährte | vorbereiten | gemeinschaftlich etwas unternehmen | umherziehen | fremd und weglos durch dick und dünn |
Nomina der Fortbewegung in den altgermanischen Sprachen
Eine gründliche Untersuchung (Breidbach 1994) fand 358 verschiedene Bezeichnungen für Fortbewegung in den ältesten Quellen der sieben altgermanischen Sprachen 1) und reduzierte diese auf 21 Stämme für das `sich-fortbewegen´ des Menschen. Diese wurden auf ihre Bedeutung im textlichen Zusammenhang untersucht und geordnet, hier stark vereinfacht:
- *senþa erscheint als vorliterarische, urgermanische Bezeichnung der menschlichen Fortbewegung und wurde später von den nachfolgenden Formen verdrängt; *sent wäre deren indogermanische Wurzel im Sinne von senden, sinnen, trachten nach, also ein sich fortbewegen in einer bestimmten Richtung mit Ziel, Zweck und Sinn.
- *ganga (Fortbewegung aus eigener Kraft ohne Hilfsmittel; indogermanisch *ğhengh `schreiten, Schritt´) und
- *wega (Ort der Fortbewegung und teils die Fortbewegung selbst; indogermanisch *ųeğh) sind in allen sieben Sprachen zu finden und dürften daher auch urgermanisch sein. Im Wesentlichen leben Gang und Weg mit ihrem Bedeutungsgehalt bis heute nahezu unverändert fort. *wega bedeutet ein „auf und ab“ wie beim Wiegen mit einer Balkenwaage und ein „hin-und-her“ des gezogenen Wagens (zwischen Acker und Ort?) sowie abstrahiert davon die Bewegungsbahn (den Weg) zwischen den beiden Polen. Weg-Worte bildeten in der Untersuchung die umfangreichste Quelle.
- *faran (< indogermanisch *per `hinüberführen, übersetzen, durchdringen´) mit ursprünglichem Bezug zum Wasser (Bootsfahrt?) verdrängt in späterer Zeit in sechs Sprachen (außer jm Gotischen) das ältere *senþa mit weit gefasster Bedeutung. Faran wird das Wort mit den meisten Ableitungen und Aspekten.
- *weiþ-o (ahd. weida, mhd. weide, aengl. wað) bezeichnete das sich-fortbewegen zur Nahrungsbeschaffung, also ursprünglich das gezielte Angehen des Wildes auf der Jagd, später den Gang zur Weide, zum Fischgrund und erhielt sich bis zum 19. Jahrhundert vielleicht im Wadsack.
- Das althochdeutsche *reisa und das mittelhochdeutsche ge-verte sind später entstanden.
(Fast) Alle diese Bezeichnungen bezeichnen im Laufe der Zeit in unterschiedlich ausgeprägter Art und Weise
- das sich-fortbewegen > das Unterwegs-sein;
- einen Ort;
- dienen als Metapher
- oder manchmal als Iterativadverb: zweimal, dreimal, viermal, immer, niemals.
Bereits in den ältesten verfügbaren Quellen der sieben Sprachen überwiegt die Verwendung als Metapher, so dass die praktische Bedeutung ein weitaus höheres Alter haben muss und sich der Sprachanalyse entzieht.
Der Sinn solchen Unterwegs-seins erschließt sich erst durch weitere Begriffe:
- Die Waid als Jagd und der Gang zur Weide waren notwendige Formen des Unterwegs-seins zur Nahrungsbeschaffung im vertrauten Raum (Bann).
- Das Verlassen des vertrauten Raums war entweder eine Strafe (Verbannung) für den Outlaw oder spirituelle Reise an Übergängen etwa als Utiseta einer Seherin.
- Die Aussendung eines Gesandten oder Boten zu einem entfernten Ort erscheint als ursprünglichste legitime Form des Unterwegs-seins außerhalb der Nahrungsbeschaffung.
- Wallern und wandern bedeuteten zuerst 'sich wiederholt hierhin und dorthin wenden' im alltäglichen Raum 2). Erst etwa seit dem 12./13. Jahrhundert wird dies übertragen auf 'von einem ort zum andern ziehen' 3).
- → Konzepte des Unterwegs-Seins: Gang - Fahrt - Reise und andere
Im Unterschied zum `sich fortbewegen´ findet sich ein Begriff für `sich bewegen´ ohne Ortsveränderung, der sich Hofreite und Reede als `Ort, wo Schiffe bereit gemacht werden´ erhalten hat. Mehr dazu siehe Reitwagen. Dorthin gehört auch das Reitpferd, weil das Verb reiten für die Fortbewegung auf dem Pferd erst später daraus abgeleitet wurde.
Unterschieden vom `sich fortbewegen´ ist die rollende Bewegung des Fuhrwerks als Werkzeug, denn auch `Wagen´ ist von einem indogermanischen Bewegungsverb abgeleitet, so dass `Reitwagen´ zwar zwei Bewegungsverben enthält, jedoch mit je unterschiedlicher Bedeutung.
Gang, Weg und Fahrt in der germanischen Mythologie
In der ältesten Schicht hat sich das Gehen mit *wegan verbunden (weg-gehen) und wurde zum Gang im Sinne von Unterwegs-sein: auf dem Weg sein. Ein Indiz für ein hohes Alter ist die Nutzung der Wortwurzeln ganga, senþa, vega in der germanischen Mythologie. Dort heißt es, dass Odin 42 Reisen zu den Völkern unternommen habe, um deren weise Frauen und Männer zu prüfen 4). Dabei erhielt er jedes mal einen Beinamen 5):
- als Beiname (heiti) Odins: Gangari, Ganglari, Gangleri: `der des Gehens Gewohnte (Müde?)´ 6)
- Odins Speer Gungnir: `Gehender´ > Durchdringer; als Váfuðr Gungnis `der den Speer schwingt´
- als Beiname (heiti) Odins: Sanngetall: `der den Sinn findet´ (die Wahrheit errät) 8)
- … Váfuðr, Vafud: `der Schwingende´ > Gehender 9)
- … Vegtamr: der `Weggewohnte, Wegzähmer´ 10)
- … viðferur/-forull (Víthförull): `Weitfahrer´ 11)
- Synonym: Wodan-Merkur: Mercurius viator, viator indefessus, Gangleri, Vegtamr, viðforull 12)
- als Kenning: hwæl-weġ `Der Weg des Wals´ > die See 13)
Literatur
NN
Feld der Fortbewegung.
Wörterbuch der Valenz etymologisch verwandter Wörter: Verben, Adjektive, Substantive.
Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2011, pp. 23-46. DOIHipp, Helga
[=Diersch, Helga
1972]
Verben der Fortbewegung in der deutschen Sprache der Gegenwart.
Eine Untersuchung zu syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen des Wortinhalts.
Leipzig, Philol. F., Diss. 17. Mai 1968. Berlin : Akademie-Verlag, 1972. Literaturverz. S. 214 - 221.Ladtschenko, M.
Wortbildende und semantische Besonderheiten der deutschen onomatopoetischen Fortbewegungsverben.
Сучасні дослідження з іноземної філології 13 (2015) 80-86.Muroi, Yoshiyuki
Zur Szene von `fahren´.
In: Energeia 18 (1992) 59-72Muroi, Yoshiyuki
Zu den peripheren Verwendungen von fahren und fliegen.
Die Deutsche Literatur 93 (1994): 136-144.Nedoma, Robert
Zur Problematik der Deutung älterer Runeninschriften–kultisch, magisch oder profan?
Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. De Gruyter, 2012. 24-54.
Anmerkungen zu den altgermanischen Bezeichnungen für Reise, Fahrt, Gang.Gabriele Schabacher
Fußverkehr und Weltverkehr. Techniken der Fortbewegung als mediales Rauminterface.
S. 23-41 in: Annika Richterich (Hg.): Raum als Interface (=Sonderheft Massenmedien und Kommunikation, MuK 187/188), Siegen 2011Schönhammer, Rainer
In Bewegung. Zur Psychologie der Fortbewegung.
301 S. München 1991: Quintessenz. InhaltTakahashi, Miho
Über die Asymmetrie von „Ursprung “und „Ziel “.
Eine korpusbasierte Studie am Beispiel der Partikel-und Doppelpartikelverben der Fortbewegung mit fahren.
Linguisten-Seminar: Forum japanisch-germanistischer Sprachforschung. Vol. 3. Japanische Gesellschaft für Germanistik, 2021.Norbert Wagner
Der Name der ,Schrittfinnen‘.
Historische Sprachforschung / Historical Linguistics 121 (2008) 241-244.
Die antiken Bezeichungen für die Finnen werde von schreiten/gleiten abgeleitet und mit dem Einsatz des Ski verbunden.Wolf, Norbert Richard
Wie reistGawan
, wie der Pilger? Zum 'Reisewortschatz' im Mittelalter I.
In: Dietrich Huschenbett/John Margetts (Hg.): Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Würzburg 1991 (=Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 6), S. 14 - 23Wolf, Norbert Richard
Reisen im Mittelalter? Anmerkungen zum mittelalterlichen Reisewortschatz II.
In: Verborum Amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Fs. Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag. Berlin/New York 1992, S. 263 - 272Wolf, Norbert Richard
Der Mensch geht, der Teufel fährt.
Zum semantischen und syntaktischen Verhalten einiger Fortbewegungsverben.
Sprachwandel im Deutschen. De Gruyter, 2018. 77-90.Anthony, David; D. Y. Telegin, D. Brown
Die Anfänge des Reitens
Spektrum 1992 2, 88-94
Fortbewegungsverben im Sprachvergleich
frz. Les verbes de mouvement/Verbes de déplacement, engl. verbs of human locomotion
→ Yo Matsumoto
, Dan I. Slobin
A Bibliography of Linguistic Expressions for Motion Events.
Part I Online
Storjohann, Petra
A diachronic constrastive [sic] lexical field analysis of verbs of human locomotion in German and English.
Zugl.: Manchester, Univ., Diss., 2002. 265 S. graph. Darst. Frankfurt/M. P. Lang 2003Slobin, Dan I.
Two ways to travel: Verbs of motion in English and Spanish.
in: Masayoshi Shibatani, Sandra A. Thompson (Hg.): Grammatical Constructions: Their Form and Meaning. Oxford 1996: Clarendon Press
Fuchs, Philipp
Das altfranzösische Verbum Errer mit seinen Stammesverwandten und das Aussterben dieses Wortes.
Romanische Forschungen 38 (1919) 335-391. OnlineKrassin, Gudrun
Das Wortfeld der Fortbewegungsverben im modernen Französisch.
294 S. Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1981 Frankfurt am Main Bern New York Lang 1984.
Mit einem Überblick der 1981 vorliegenden Arbeiten zu Fortbewegungsverben im Englischen, Deutschen und Französischen. Inhalt u.a.:- Fortbewegung auf festem Untergrund:
circuter, marcher, rouler, cheminer, trotter, courir, ramper, glisser; - Subjektiv bewertete Fortbewegung:
se glisser, se couler, se pavaner, se traîner, se promener, flâner, déambuler, errer, vagabonder, rôder, voyager; - Nach vom bzw. nach hinten gerichtete Fortbewegung:
(s')avancer,(se) reculer, progresser, rétrograder; - Hin- bzw. weggerichtete Fortbewegung:
aller, venir, retourner, rentrer, s’écarter, s'éloigner, (s’)approcher, partir, arriver, parvenir; - Hinein- bzw. hinausgerichtete Fortbewegung:
sortir, entrer, pénétrer, s‘introduire; - Präteritive Fortbewegung:
passer, parcourir, arpenter, traverser, franchir, enjamber, raser, longer, côtoyer
voyage: faire un voyage
synonym: ambuler, battre le pays, circuler, courir le monde, se déplacer, déambuler, errer, être par monts et par vaux, excursionner, faire du chemin (cheminer), faire le tour du monde, flâner, marcher, parcourir le monde, partir, pérégriner, randonner, se balader, se promener, vagabonder, voir du pays
umgangssprachlich: bourlinguer, changer d'air, rouler sa bosse, s’aérer, se dépayser
Marianna Spano
Verben zum Ausdruck einer allgemeinen Fortbewegung im Altgriechischen: Eine integrative Analyse von räumlicher und zeitlicher Dimension.
Diss. Univ. Berlin 2015 407 S. OnlineDoris Schawaller
Fortbewegungsverben im griechischen Neuen Testament und ihre altkirchenslavische Übersetzung.
Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1990: Lang
Cirko, L.
Die deutschen Verben der Fortbewegung aus der Gruppe fahren und ihre polnischen Entsprechungen.
Kwartalnik neofilologiczny 30.1 (1983) 67-80.Rajchartová, Marina
Analyse der präfigierten und zusammengesetzten Verben der aktiven menschlichen Fortbewegung am Beispiel ausgewählter deutscher Verben und ihrer tschechischen Entsprechungen.
147, 10 Bl. Leipzig, Univ., Diss. 1987.Schmidt, Gabriele
Deutsche Verbalzusammensetzungen aus weg/her/hin und Verben der Fortbewegung und ihre russischen Entsprechungen.
143, XI, 10 Bl. Leipzig Diss. 1989.
Hamiti, Vjosa
Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen mit trennbaren und untrennbaren Präfixen und die Äquivalente im Albanischen.
S. 309–322 in: Elke Hentschel (Hg.): Wortbildung im Deutschen. Tübingen 2016: Narr/Francke/Attempto
Cheng, Ying
Deutsche und chinesische Bewegungsverben: Ein sprachdidaktischer Vergleich ihrer Semantik und Valenz.
Diss Berlin 1988. Berlin, Boston: De Gruyter, 2019. DOI
Ettmüller, Ludwig
Vaulu-spá: das älteste Denkmahl germanisch-nordischer Sprache, nebst einigen Gedanken über Nordens Wissen und Glauben und Nordische Dichtkunst. Leipzig 1830: Weidmann S. IX
Schlauch, Margaret
Wīdsīth, , Víthförull, and Some Other Analogues.
PMLA 46.4 (1931) 969-987.
Wanner, Kevin J.
God on the margins: Dislocation and transience in the myths of Óðinn.
History of religions 46.4 (2007) 316-350
Kaspers, Wilhelm
Germanische Götternamen.
Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 83.2 (1951) 79–91. Online