====== Kosmopolit ====== Ich möchte Weltbürger sein, überall zu Hause und, was noch entscheidender ist, überall unterwegs. Erasmus von Rotterdam (1469-1536) Der Begriff des κοσμοπολίτης (kosmopolitês) wurde in der griechischen Antike geprägt aus κόσμος (kosmos) und πολίτης (polítes) und kann anekdotisch ((''Diogenes Laertius''\\ //Lives of Eminent Philosophers 6.2. Diogenes//)) zurückverfolgt werden bis zu ''Diogenes von Sinope'' (ca 403 - 323 v. Chr.), dem Kyniker, der in einer Tonne lebte und ''Alexander den Großen'' bat, er möge ihm aus der Sonne gehen. Als Kosmos wurde im engsten Sinne die staatliche Ordnung in den griechischen [[wiki:staaten|Stadtstaaten]] (Poleis) bezeichnet ((''Rémi Brague''\\ //Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken//\\ Aus dem Franz. (La sagesse du monde) von Gennaro Ghirardelli. München Beck 2006)), als //polit// die darin ansässigen [[wiki:freiheit|Freien]]. Der Begriff des Weltbürgers geht darüber hinaus, zumal wir unter *[[wiki:welt|Welt]] heute etwas anderes verstehen. Neu war daran, dass sich ''Diogenes'' nicht als Teil eines Clans oder Stammes definierte, sondern als Teil einer größeren sozialen Ordnung, deren Angehörige nicht blutsverwandt waren, sondern dem gemeinsamen Selbstverständnis den Vorrang gaben. In erweiterter Form wurde daraus im Humanismus der Weltbürger, wie ihn ''Erasmus'' verstand. Für die einen bedeutete dies, dass Heimat überall sein kann, für die anderen war es die Fähigkeit, sich die [[wiki:fremdes|Fremde]] vertraut zu machen, überall leben zu können. Das berührt die Themen [[wiki:aufklaerung|Aufklärung]], [[wiki:bildungsreise|Bildung(sreisen)]] und SAE (Selbstorganisation, Autopoiesis, Emergenz). Weltbürger zu sein war modern im Zeitalter der [[wiki:erforscher|Entdeckungsreisen]], als die Welt in der ersten Globalisierungswelle immer größer wurde. Schließlich waren immer mehr Bürger unterwegs: Seeleute, Kaufleute, [[wiki:erforscher|Forscher]], [[wiki:abenteuer|Abenteurer]], Schriftsteller, Philosophen, Soldaten und Politiker.\\ Deutschland und England bilden dabei einen interessanten Gegensatz, der wesentlich durch ihre Lage geprägt ist. Deutschland mit (heute) neun Nachbarländern ((Dänemark, Polen, Tschechien, Österreich, Liechtenstein, Schweiz, Frankreich, Belgien, Niederlande)) ist durch seine zentrale Lage in Europa ein Durchreiseland: Die Welt kommt hinein, ob man das will oder nicht. Vielleicht auch daher singt man hier: »Muss i denn zum Städtele hinaus?« und empfiehltz stattdessen: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich«.\\ England ist durch seine Insellage einerseits isoliert, andererseits als Seefahrernation und //Empire// mit der gesamten Welt stärker verbunden als Deutschland es je war: »Britannia rules the Waves«. Für einen deutlich höheren Anteil der Bevölkerung war es normal, eine berufliche Karriere im Empire anzustreben und sich damit für einen Platz irgendwo auf der Welt zu entscheiden. Gefährlich wurde es immer dann, wenn aus dem Kosmopolit ein //Kosmopolitismus// wurde, der wie alle -ismen ideologisch aufgeladen ist und sich damit von seiner Ursprungsidee entfernt. Als philosophisches Konzept entwickelte er dann politische Wirkung, etwa als Gegenentwurf zu Nationalismus oder Provinzialismus. Im Sozialismus galten Weltbürger als //entwurzelte Kosmopoliten//, die das System gefährdeten und man ersetzte ihn durch den //»proletarischen Internationalismus«// als Widerpart zum Nationalismus. Auch der Multikulturalismus der letzten Jahrzehnte steht mit ihm im ideologischen Wettstreit ((''Kenan Malik''\\ //Es ist notwendig, dass Menschen sich beleidigen//\\ SZZ 21. August 2018)). Kosmopolitismus lässt sich also je nach Reichweite und Perspektive definieren ((''Jeremy Waldron''\\ //What Is Cosmopolitan?//\\ Journal of Political Philosophy 8(2):227 - 243, Dez 2002 DOI: 10.1111/1467-9760.00100)) als * persönliche Handlungskompetenz, [[wiki:autarkie|Autarkie]] und [[wiki:autonomie|Autonomie]] * persönliche Einstellung * [[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]] * politisches Projekt * sozio-kulturelles Raster [[wiki:globetrotter|Globetrotter]] müssen also zumindest hinsichtlich ihrer Handlungskompetenz auch Kosmopoliten sein. ''Sloterdijk'' meint, solche Art von Humanismus sei //»Tribalismus für Leute im Aussendienst«// ((''Peter Sloterdijk''\\ //Kehren die Stämme tatsächlich wieder?//\\ NZZ 27.1.2018 )), weil der einsame [[wiki:reisende|Reisende]] in der [[wiki:fremdes|Fremde]] versuche, sich wieder eine »Kleingruppen-Umwelt«, also einen Ersatz-Stamm, zu schaffen ((''Nils Erich, Johannes Schneider''\\ //Warum in die Ferne schweifen//\\ Die Liebe der Deutschen zum Reisen ist nachvollziehbar, anderswo ist es auch verdammt schön. Doch das als Kosmopolitismus zu rechtfertigen, gehört gründlich hinterfragt.\\ Die ZEIT 5. Juli 2020)). Ich bezweifle das. Migranten und [[wiki:expats|Expats]] umgeben sich gleichermaßen mit Ihresgleichen, Integration ist mühsam. Auch [[wiki:reisende|Reisende]] jubeln unterwegs, treffen sie Ihresgleichen. Bei nach langer Abwesenheit heimgekehrten Globetrottern und [[wiki:expats|Expats]] wiederum überwiegt eher das Integrationsproblem - sie sind fremd geworden. Was Wunder, wenn bei Treffen eine Art »[[wiki:Wagenburg|Wagenburgen]]-Mentalität« zu beobachten ist, weil man sich unter Seelenverwandten fühlt. Eine Reiseform wie //Couchsurfing// ersetzt den Kosmopoliten durch den [[wiki:kosmohomogenitaet|Kosmokonsumenten]]. Das "small-world-phenomen" basiert auf der These, dass zwei beliebige Menschen auf der Erde über durchschnittlich sechs Kontakte (5−7) miteinander verbunden werden können. Experimentell lässt sich das bestätigen. Nun sind offensichtlich die meisten Menschen nicht weltweit, sondern eher lokal vernetzt. Es genügt jedoch, wenn auf jeder Seite lokal eine Person über ein überregionales Netzwerk verfügt. * ''Lena Laube'', ''Andreas Herz''\\ //Nachbarn in der Weltgesellschaft//.\\ Einführung zur Ad-Hoc-Gruppe »Nachbarn in der Weltgesellschaft« auf dem 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Trier 2014. [[https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2014/article/view/241/pdf_130&ved=2ahUKEwjuqNW_1dyFAxVhwAIHHQmPDSAQFnoECBAQAQ&usg=AOvVaw2FdAlHfgMtq-VGFY0vFueY|Online]] * ''Sebastian Schnettler''\\ //A small world on feet of clay? A comparison of empirical small-world studies against best-practice criteria//\\ Social Networks, 31.3 (2009) 179-189. [[https://doi.org/10.1016/j.socnet.2008.12.005|DOI]] ---- * ''Canzler, W., Kaufmann, V., & Kesselring, S.'' (Hg.)\\ //Tracing mobilities: Towards a cosmopolitan perspective.//\\ Farnham 2008: Ashgate. * ''Robin Cohen'', ''Steven Vertovec'' (Hg.)\\ //Conceiving Cosmopolitanism: Theory, Context, and Practice//.\\ VII, 324 S. Oxford, New York 2002: Oxford University Press. [[https://catdir.loc.gov/catdir/enhancements/fy0613/2002030265-t.html|Inhalt]] 17 Beiträge, u.a.: * The class consciousness of frequent travellers: towards a critique of actually existing cosmopolitanism * Not universalists, not pluralists: the new cosmopolitans find their own way * ''Derrida, Jacques''\\ //Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!//\\ 57 S. Paris 1997: Galilée. * ''Treml, Alfred K.'' \\ //Die Erziehung zum Weltbürger: Und was wir dabei von ''Comenius'', ''Kant'' und ''Luhmann'' lernen können.//\\ Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 19.1 (1996) 2–8 * ''Szerszynski, B.'', ''Urry, J.''\\ //Cultures of Cosmopolitanism//.\\ Sociological Review 50.4 (2002) 461–81