Marc Zollinger
Achtung, Hühnerdiebe!
NZZ 06.12.2019
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Bevor wir die Reise um die Welt beginnen, sollten wir die Reise um uns selbst beendigen. Denis Diderot 1713-1784
Die antiken Tragödien zeigen das Schicksal Einzelner - Antigone, Elektra, Ödipus - weil sie keine andere Wahl hatten als sich dem Spruch der Götter zu unterwerfen. Dass der Mensch seinen eigenen Willen und seine Werte über alles andere stellte, erschien ebenso wenig möglich wie es uns heute möglich wäre, sich bedingungslos dem Spruch eines Orakels, dem Willen eines Zeus zu unterwerfen. Denkbar zwar, jedoch absurd. Sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen, macht den Menschen zum Übermenschen (Friedrich Nietzsche
), weil er sich Göttliches anmaßt oder zum Sisyphos (Albert Camus
), weil er all sein Mühen mit Sinnlosigkeit bezahlt bekommt, mit Einsamkeit, Absonderung, Heimatlosigkeit, denn den anderen erscheint er als zerrissen, zweideutig (totus ambiguus), gespalten und nach Bernard von Clairvaux
über Abaelard
sich selbst unähnlich (homo sibi dissimilis est), als Schlaumeier (prudentes nostri) und immer wieder als Trickster. Wer zeitlebens keine Ordnung (ordo) akzeptiert, erntet Chaos.
Die Heroisierung des Einzelnen als Held, Abenteurer, Individualist ist zwar keine Erfindung der Neuzeit, kam jedoch im 21. Jahrhundert im Absurden an, weil der Einzelne von der Ausnahme zur Mehrheit wurde und mit dem Streben nach Singularität das gemeinschaftliche Wir auflöst bis hin zum totalen Rückzug ins Cocooning, Hikikomori oder als Internet-Autist. Autonomie oder Selbstbestimmung als Ziele der Persönlichkeitsbildung zwischen Asozialen Helden und dogmatischen Systembewahrern setzen voraus, dass man spielerisch mit Grenzen und Regeln umgehen kann: Dumme vertrauen auf Prinzipien, Schlaue wollen ans Ziel.
Robert Harrison
über Wohlstandsbürger:Der Individualist unterwegs kann Einzelreisender oder Individualtourist sein, aber als Outsider [lat. extraneus] auch zum Einzelgänger und Sonderling werden, zum ewigen Wanderer als ein Pilger auf der Reise zu sich Selbst. Im Extrem wird daraus ein a-soziales Ich ohne Bezug zum Wir auf der kompromisslosen Suche nach Selbstverwirklichung, der den meisten ein Fremder ist, oft ein Heimatloser oder gar ein Outlaw.
Gorʹkij, Maksim
(= Maxim Gorki)
Den russischen Originaltitel Prochodimetz Проходимэц deutet der Übersetzer als »Der Bewanderte, Kundige« im Sinne eines schlauen Fuchses (Die englische Übersetzung 1897 nimmt Mischief-Maker), eines wandernden, ruhelosen Tricksters, eines Landstreicher oder Vagabunden. Gorki thematisiert den Einzelnen in seinen Erzählungen immer wieder, vergleichbar mit Walt Whitman
(Gesang von der freien Straße) und Knud Hamsun
(Der Landstreicher). Die philosophische Idee dahinter nennt man Solipsismus: Nichts ist gewiss außer dem Bewußtsein des Ich (lateinisch: sōlus `allein´, ipse `selbst´).
Das italienische furbo umfasst denselben Bedeutungsgehalt und meint den Hühnerdieb, Spitzbuben, ein Schlitzohr, Schlawiner, Schlaumeier 1), der jedoch durchaus Ansehen genießt, wenn er erfolgreich trickst.
Den furbo gab es bereits in der Antike. In koptischen Texten des 4. Jahrhunderts werden die frühesten urchristlichen Wandermönche als Sarakwte (sarakôte, korrumpiert sarabaitae) bezeichnet; dem entspricht griechisch παράσιτος parásitos `Tischgenosse, Schmarotzer´ (engl. freeloader) und bei Hesiod
gilt der wandernde Sänger als Κόλακες Kolakes `Schmeichler´ mit ähnlichen Zielen.
Das antike »Erkenne dich selbst« über dem Tempeleingang von Delphi wurde im späten Mittelalter als »Scito te ipsum« wieder augefrischt, doch ohne Götter. Wenn zeitgleich im zwölften Jahrhundert die literarische Form der Autobiographie auflebte, weiß man, wer an deren Stelle getreten ist. Letzten Endes gibt es den Einzelnen seit der Mensch ein Ich-Bewußtsein hat, er also vom Apfel der Erkenntnis aß. Das verbindet den Adam
des Alten Testamentes mit dem Enkidu
der Sumerer, auch wenn bei diesem der Beischlaf die Erkenntnis bewirkte.
Dante Alighiere
(1265-1321) lässt den Odysseus
sagen »Verweigert Euch nicht der Erfahrung jenseits der Sonne, einer Welt ohne Menschen« 2). Das setzt den Einzelnen voraus und seinen Willen, neue Möglichkeitsräume zu erschließen, und wertet das Wissen höher als den Glauben.
In der Geschichte des Reisens gilt oft Francesco Petrarca
(1304-1374) durch seine Schilderung vom 26. April 1336 der Besteigung des Monte Ventoux als Protagonist, der seine Fahrt dem Ich widmete, dem das Naturleben zur Erfahrung des Selbst diente.
Als nächster Ich-Protagonist der reiseliterarischen Gattung der Hodoeporica gilt Johannes Butzbach
(1478-1516), der seine autobiographischen Schrift Odeporicon 1505 niederschrieb, damit seine Erfahrungen anderen nützlich seien.
Busch, Christopher
, Till Dembeck
, Maren Jäger
Aus der Summe solcher individuellen Erfahrungen ließen sich Regeln verallgemeinernd ableiten, die die individuellen Erfahrungen so kanalisierten, damit es zu gesellschaftlich erwünschtem Wissen führte: die Apodemik als Anleitung zum »richtigen« Reisen entstand.
Immer wieder fanden sich unter jeweils zeittypischen Bedingungen so viele Aussteiger einer Gesinnung, dass diese in eigenen Gemeinschaften neu zusammenfanden, sich also wieder einer Ordnung unterwarfen: Urchristen, Ritterorden, Gilden, Bruderschaften, Zünfte. 2010 prägte der Anthropologe Joseph Henrich
das Akronym WEIRD für Menschen aus westlichen Kulturen, mit Erziehung, aus industrialisierten Ländern, reich und demokratisch auf der Basis von 24 verhaltenspsychologisch messbaren Merkmalen. Dabei zeigte sich eine stärkere Disposition zu individualistischem Verhalten, Unabhängigkeit, analytischem Denken, Offenheit für Fremdes und Gerechtigkeit. Und es zeigte sich eine geringere Disposition sich unterzuordnen, Nepotismus oder Klientelwirtschaft zu bedienen. Die Ursache fanden sie in der historischen Bereitschaft, neue Gemeinschaften zu gründen, deren Zusammenhalt auf Übereinkunft beruhte - also eben nicht Unterwerfung unter Familienälteste, Primat des Clans, völlige Konformität, Verzicht auf eigenes Denken.
Jonathan F. Schulz, Duman Bahrami-Rad, Jonathan P. Beauchamp, Joseph Henrich
Ohne Demut steigt das Anspruchsverhalten des Einzelnen gegenüber einer Gesellschaft, die er selber auflösen hilft. Maximale Forderungen bei minimaler Verantwortung, also Rechte ohne Pflichten erzwingen eine ergebnisoffene Gesellschaft:
Armin Nassehi
Alle Glaubenssysteme der Moderne basieren auf der Überzeugung, das „Vernunft“ das ist, was übrig bleibt, wenn alles „Nicht-Erklärbare“ abgezogen wird. Dies führt jedoch gegenwärtig nicht zu einer „vernünftigen“ Welt sondern zu überforderten Funktionssystemen der Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, Politik. Vielleicht, so die Überlegung, mangelt es der reinen Vernunft an einem bestimmten Maß von Transzendenz. Der Weise Narr beispielsweise geht einen anderen Weg. In diese Richtung weisen die Werke des Philosophen Charles Taylor
, etwa:
Eine andere Schnittstelle ergibt sich zum Verständnis von Freiheit. Wenn der Einzelne in seiner Wertepyramide die Freiheit versteht, alles zu tun was beliebt, so führt dies auch dazu, dass die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Die unbegrenzte individuelle Freiheit bedarf sozialer Grenzen, weil nur dann die Freiheit aller möglichst groß ist. In diesem Sinne argumentiert der Verfassungsrechtler:
Christoph Möllers
Der Einzelne, der keine Verantwortung übernimmt, erscheint bereits in der Renaissance in der Figur des Niemand, der unentwegt wandernd durch zerbrochenen Hausrat schreitet. Dieser symbolisiert das Unheil, dass der Niemand hinterlässt, weil er ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist.
Braun, Michel
Heuer, Christopher P.
Birgit Ulrike Münch
; Jürgen Müller
: Peiraikos' Erben. die Genese der Genremalerei bis 1550. Wiesbaden Reichert 2015. OnlineNobody
L. Tieck
herausgegeben von J. Bolte
.Schulz-Grobert, J.
Augé, Marc
Bynum, Caroline Walker
Marco d’Eramo
Otfried Höffe
Epikurs
.« (Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten in: Menschliches, Allzumenschliches Nr. 192).Morris, Colin
Andrejs Petrowski
Andreas Reckwitz
Rexroth, Frank
Frank Rexroth
Bernard von Clairvaux
und Abaelard
Philipp Sarasin
Florian Meinel
: Das Jahr 1977. Die tiefere Botschaft des Langstreckenlaufs FAZ 02.08.2021.Schreiber, Daniel
Daniel Schreiber
im Gespräch mit Axel Rahmlow
Deutschlandfunk 25.09.2021 OnlineZschocke, Martina
Siehe auch