Bevor wir die Reise um die Welt beginnen, sollten wir die Reise um uns selbst beendigen. Denis Diderot 1713-1784
Es gibt den Einzelnen seit der Mensch ein Ich-Bewußtsein hat, er also vom Apfel der Erkenntnis aß, den Eva ihm reichte. Das verbindet den Adam
des Alten Testamentes mit dem Enkidu
der Sumerer, auch wenn bei diesem der Beischlaf die Erkenntnis bewirkte. Sie wurden füreinander zum »significant other«, der Wilde Mann steht für den Übergang vom Tier zum Menschen.
Der Einzelne sucht im Unterwegs-sein das verlorene Paradies. Dazu muss er die Gemeinschaft verlassen und wird zum Außenseiter im Zwischenraum. Dort kann er als Pionier Anerkennung finden, zum Waldläufer werden oder sich in die Waldeinsamkeit zurückziehen.
Augé, Marc
Schreiber, Daniel
Daniel Schreiber
im Gespräch mit Axel Rahmlow
Deutschlandfunk 25.09.2021 Online
Die antiken Tragödien zeigen das Schicksal Einzelner wie etwa Antigone, Elektra oder Ödipus, weil sie keine andere Wahl hatten als sich dem Spruch der Götter zu unterwerfen. Dass der Mensch seinen eigenen Willen und seine Werte über alles andere stellte, erschien ebenso wenig möglich wie es uns heute möglich wäre, sich bedingungslos dem Spruch eines Orakels, dem Willen eines Zeus zu unterwerfen. Denkbar zwar, jedoch absurd. Sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen, macht den Menschen zum Übermenschen (Friedrich Nietzsche
), weil er sich Göttliches anmaßt oder zum Sisyphos
(Albert Camus
), weil er all sein Mühen mit Sinnlosigkeit bezahlt bekommt, mit Einsamkeit, Absonderung, Heimatlosigkeit, denn den anderen erscheint er als zerrissen, zweideutig (totus ambiguus), gespalten und nach Bernard von Clairvaux
über Abaelard
sich selbst unähnlich (homo sibi dissimilis est), als Schlaumeier (prudentes nostri) und immer wieder als Trickster. Wer zeitlebens keine Ordnung (ordo) akzeptiert, erntet Chaos.
Frank Rexroth
Bernard von Clairvaux
und Abaelard
Das antike »Erkenne dich selbst« über dem Tempeleingang von Delphi wurde im späten Mittelalter als »Scito te ipsum« wieder augefrischt, doch ohne Götter. Wenn zeitgleich im zwölften Jahrhundert die literarische Form der Autobiographie auflebte, weiß man, wer an deren Stelle getreten ist.
Bynum, Caroline Walker
Morris, Colin
Dante Alighiere
(1265-1321) lässt den Odysseus
sagen »Verweigert Euch nicht der Erfahrung jenseits der Sonne, einer Welt ohne Menschen« 1). Das setzt den Einzelnen voraus und seinen Willen, neue Möglichkeitsräume zu erschließen, und wertet das Wissen höher als den Glauben.
Die erste individuelle Biographie ist wahrscheinlich die Vita di Dante, die Giovanni Boccaccio
(um 1313 bis 1375) 1360 schrieb und die 1477 erstmals gedruckt wurde in: Dante Alighieri
, Divina Commedia, Venedig.
Heinrich Seuse
(= Suso, um 1295 bis 1366) schrieb vor 1362 die erste deutschsprachige Autobiographie.
In der Geschichte des Reisens gilt Francesco Petrarca
(1304-1374) durch seine Schilderung der Besteigung des Monte Ventoux vom 26. April 1336 als Protagonist, der seine Fahrt dem Ich widmete, dem das Naturleben der Bergwelt zur Erfahrung des Selbst diente und sich dabei formal an Augustinus
orientierte, dem die erste Autobiographie (PMM 7) zugeschrieben wird.
Als Ich-Protagonist der reiseliterarischen Gattung der Hodoeporica gilt Johannes Butzbach
(1478-1516), der seine autobiographischen Schrift Odeporicon 1505 niederschrieb, damit seine Erfahrungen anderen nützlich seien.
Busch, Christopher
, Till Dembeck
, Maren Jäger
Aus der Summe solcher individuellen Erfahrungen ließen sich Regeln ableiten, die die individuellen Erfahrungen so formten, dass gesellschaftlich erwünschtes neues Wissen entstand: die Apodemik als Anleitung zum »richtigen« Reisen.
Rexroth, Frank
Der Individualist kann unterwegs Einzelreisender oder Individualtourist sein, aber als Outsider [lat. extraneus] auch zum Einzelgänger und Sonderling werden, zum ewigen Wanderer als ein Pilger auf der Reise zu sich Selbst.
Boetius, Henning
Jens Jürgen Clausen
Kaschnitz, Marie-Luise
Kertèsz, Imre
Im Extrem wird daraus ein a-soziales Ich ohne Bezug zum Wir auf der kompromisslosen Suche nach Selbstverwirklichung, der den meisten ein Fremder ist, oft ein Heimatloser oder gar ein Outlaw.
Gorʹkij, Maksim
(= Maxim Gorki)
Den russischen Originaltitel Prochodimetz Проходимэц deutet der Übersetzer als »Der Bewanderte, Kundige« im Sinne eines schlauen Fuchses (Die englische Übersetzung 1897 nimmt Mischief-Maker), eines wandernden, ruhelosen Tricksters, eines Landstreicher oder Vagabunden. Gorki thematisiert den Einzelnen in seinen Erzählungen immer wieder, vergleichbar mit Walt Whitman
(Gesang von der freien Straße) und Knud Hamsun
(Der Landstreicher).
Die philosophische Idee dahinter nennt man Solipsismus: Nichts ist gewiss außer dem Bewußtsein des Ich (lateinisch: sōlus `allein´, ipse `selbst´).
Das italienische furbo umfasst denselben Bedeutungsgehalt und meint den Hühnerdieb, Spitzbuben, ein Schlitzohr, Schlawiner, Schlaumeier, der jedoch durchaus Ansehen genießt, wenn er erfolgreich trickst. Den furbo gab es bereits in der Antike. In koptischen Texten des 4. Jahrhunderts werden die frühesten urchristlichen Wandermönche als Sarakwte (sarakôte, korrumpiert sarabaitae) bezeichnet; dem entspricht griechisch παράσιτος parásitos `Tischgenosse, Schmarotzer´ (engl. freeloader) und bei Hesiod
gilt der wandernde Sänger als Κόλακες Kolakes `Schmeichler´ mit ähnlichen Zielen.
Marc Zollinger
Andrejs Petrowski
Dem gegenüber steht die Heroisierung des Einzelnen als Held und Abenteurer in der Neuzeit, die im 21. Jahrhundert im Absurden ankam, weil der Einzelne von der Ausnahme zur Mehrheit wurde und mit dem Streben nach Singularität (sichtbar an Distinktionsmerkmalen) das gemeinschaftliche Wir auflöst bis hin zum totalen Rückzug ins Cocooning, Hikikomori oder als Internet-Autist. Autonomie oder Selbstbestimmung als Ziele der Persönlichkeitsbildung zwischen Asozialen Helden und dogmatischen Systembewahrern setzen voraus, dass man spielerisch mit Grenzen und Regeln umgehen kann: Dumme vertrauen auf Prinzipien, Schlaue wollen ans Ziel.
Andreas Reckwitz
Robert Harrison
über Wohlstandsbürger:Otfried Höffe
Epikurs
.« (Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten in: Menschliches, Allzumenschliches Nr. 192).Zielke, Anne
Eine andere Schnittstelle ergibt sich zum Verständnis von Freiheit. Wenn der Einzelne in seiner Wertepyramide die Freiheit versteht, alles zu tun was beliebt, so führt dies auch dazu, dass die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Die unbegrenzte individuelle Freiheit bedarf sozialer Grenzen, weil nur dann die Freiheit aller möglichst groß ist. In diesem Sinne argumentiert der Verfassungsrechtler:
Christoph Möllers
Immer wieder fanden sich unter jeweils zeittypischen Bedingungen so viele Aussteiger einer Gesinnung, dass diese in eigenen Gemeinschaften neu zusammenfanden, sich also wieder einer Ordnung unterwarfen: Urchristen, Ritterorden, Gilden, Bruderschaften, Zünfte. 2010 prägte der Anthropologe Joseph Henrich
das Akronym WEIRD für Menschen aus westlichen Kulturen, mit Erziehung, aus industrialisierten Ländern, reich und demokratisch auf der Basis von 24 verhaltenspsychologisch messbaren Merkmalen. Dabei zeigte sich eine stärkere Disposition zu individualistischem Verhalten, Unabhängigkeit, analytischem Denken, Offenheit für Fremdes und Gerechtigkeit. Und es zeigte sich eine geringere Disposition sich unterzuordnen, Nepotismus oder Klientelwirtschaft zu bedienen. Die Ursache fanden sie in der historischen Bereitschaft, neue Gemeinschaften zu gründen, deren Zusammenhalt auf Übereinkunft beruhte - also eben nicht Unterwerfung unter Familienälteste, Primat des Clans, völlige Konformität, Verzicht auf eigenes Denken.
Jonathan F. Schulz, Duman Bahrami-Rad, Jonathan P. Beauchamp, Joseph Henrich
Ohne Demut steigt das Anspruchsverhalten des Einzelnen gegenüber einer Gesellschaft, die er selber auflösen hilft. Maximale Forderungen bei minimaler Verantwortung, also Rechte ohne Pflichten erzwingen eine ergebnisoffene Gesellschaft:
Armin Nassehi
Hecht, Martin
Alle Glaubenssysteme der Moderne basieren auf der Überzeugung, das „Vernunft“ das ist, was übrig bleibt, wenn alles „Nicht-Erklärbare“ abgezogen wird. Dies führt jedoch gegenwärtig nicht zu einer „vernünftigen“ Welt sondern zu überforderten Funktionssystemen der Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, Politik. Vielleicht, so die Überlegung, mangelt es der reinen Vernunft an einem bestimmten Maß von Transzendenz. Der Weise Narr beispielsweise geht einen anderen Weg. In diese Richtung weisen die Werke des Philosophen Charles Taylor
, etwa:
Der Einzelne, der keine Verantwortung übernimmt, erscheint bereits in der Renaissance in der Figur des Niemand, der unentwegt wandernd durch zerbrochenen Hausrat schreitet. Dieser symbolisiert das Unheil, dass der Niemand hinterlässt, weil er ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist.
Braun, Michel
Heuer, Christopher P.
Birgit Ulrike Münch
; Jürgen Müller
: Peiraikos' Erben. Die Genese der Genremalerei bis 1550. Wiesbaden Reichert 2015. OnlineNobody
L. Tieck
herausgegeben von J. Bolte
.Schulz-Grobert, J.
Marco d’Eramo
Gendron, Charisse
Kisker, Klaus Peter
Niklas Luhmann
Niklas Luhmann
Plewia, Moritz
Rasche, Hermann
Philipp Sarasin
Florian Meinel
in FAZ 02.08.2021:Uwe M. Schneede
Zschocke, Martina
Siehe auch