»Daheimbleiben« ist für jeden etwas Anderes, weil die Grenzen der Heimatgefühle von der Welterfahrung geprägt werden; Heimatlose wissen davon ein Lied zu singen. Daheim zu sein verlangt nach einer Vertrautheit, die sich im Zimmer vor der Bücherwand einstellen kann, aber ebenso in Südspanien oder Griechenland, wenn man aus Afrika oder Asien über Land zurückkehrt.
Daheimbleiben zu müssen wird in modernen Zeiten als Einschränkung eines Rechts auf Freiheit empfunden, es ist Hausarrest, Lockdown oder Gefängnis; also ein Zustand, der nach Flucht verlangt.
1989 wurde Reisefreiheit zum Wort des Jahres, weil die Forderung »Freie Fahrt nach Gießen« nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 1) für die Bürger der DDR Wirklichkeit wurde.
»Freie Fahrt für freie Bürger« forderte der ADAC 1974 als Reaktion auf Geschwindigkeitsbeschränkungen - drei Monate nach dem Höhepunkt der Ölkrise und zwei Jahre nach dem Höchststand der Verkehrstoten in Deutschland.
Freizügigkeit des Reisens, Reisefreiheit und die Freiheit das Gaspedal durchzudrücken zeigen sich in vergleichbarer Mobilität, unterscheiden sich jedoch im Verhältnis von »Ich« und »Gemeinschaft«, weil jede Freiheit als Recht im Gleichgewicht mit Pflichten steht.
Die extreme Singularisierung als Lebensstil wurde 2020 durch die Pandemie »herabpriorisiert« zugunsten des Nutzens der Gemeinschaft. Kollektiv kann man dies als neuerliche Kränkung der Menschheit betrachten: die Erde ist nicht im Mittelpunkt des Universums (Kopernikus), der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung (Darwin), den freien Willen gibt es nicht (Freud) und ICH bin nicht so wichtig (Corona).
Mobilität ist zum Wert an sich geworden, allerdings auf Kosten des Reisens, und hat ein mehr an Kosmohomogenität gebracht, allerdings auf Kosten des kosmopolitischen Bewußtseins. Anzeichen dafür sind die modernen Formen des eher immobilen balconing.
Der früher kommunizierte Gegensatz zwischen Reisen (= Weltanschauung = Aufklärung) versus Daheimbleiben (=Stubenhocker = Kleingeist) ist aufgelöst. Bereits Immanuel Kant
, der seine Einsichten beim täglichen Spaziergang um Königsberg machte und dabei allerhand Menschen aus aller Welt begegnete, befand es als unnötig die Welt zu bereisen 2).
Endres, Marcel, Katharina Manderscheid, Christophe Mincke
Immanuel Kant
: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7541 S. 120-121