====== Autonomie ====== Zusammengesetzt aus den altgriechischen Wörtern //αὐτός autós »selbst«// und //νόμος nómos »Gesetz«// erklärt sich der Begriff als die Fähigkeit des Menschen, sich als Person selbst zu bestimmen. Autonomie bildet gemeinsam mit *[[wiki:autarkie|Autarkie]] und *[[wiki:mündigkeit|Mündigkeit]] die Voraussetzung zur *[[wiki:souveraenitat|Souveränität]]. ==== Frei entscheiden und handeln ==== »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.« Johann Wolfgang Goethe, 1824 in: Aphorismen und Aufzeichnungen, Maximen und Reflexionen, Band 5, Heft 1, Einzelnes 508 Das setzt die [[wiki:freiheit|Freiheit]] voraus, selbstbestimmt zu entscheiden und die Möglichkeit auch so zu handeln. Dazu muss der Mensch fähig sein, sich als freies Wesen zu erkennen und danach streben, durch Denken und [[wiki:techne|Handeln]] den Raum seiner *[[wiki:freiheit|Freiheit]] zu dehnen. Das erfordert es, seine eigene »Komfortzone« zu verlassen und etwas zu tun, dessen Ausgang ungewiss ist. Neu entdeckt und als »micro adventure« etikettiert, gibt es dafür natürlich auch Handlungsanleitungen ((''Alastair Humphreys''\\ //Micro adventures: Local discoveries for great escapes.//\\ Harper Collins 2014\\ ''Christo Förster''\\ //Mikroabenteuer//\\ Hamburg Harper Collins 2019)). Je kleiner der Raum fürs Denken und Handeln wird, desto geringer ist die Autonomie. Die Größe des Raums wird bestimmt durch innere Fähigkeiten und äußere Möglichkeiten, ist also teils selbstbestimmt, teils fremdbestimmt, jedoch variabel, und wird überwiegend zeitlich bestimmt durch * Zeiträume für fremdbestimmte Tätigkeiten, also etwa Arbeiten; * Zeiträume für die Regeneration, also Schlafen und Essen; * Zeiträume für Pflichten und Selbstorganisation, also Haushalt und Soziales; * Zeiträume für selbstbestimmte [[wiki:zeit_musse|Muße und Freizeit]]. In diesen Räumen übt das Individuum seine Rechte aus, ist [[wiki:souveraenitat|souverän]]. [[wiki:Reisende|Reisende]] verwirklichen sich handelnd über folgende Felder: ^ ^Erfahrung^Gestalten ^ ^Reisen|[[wiki:reise-handwerk|Know-How]] |[[wiki:autonomie|Autonomie]]| ^Welt |[[wiki:staunen|Staunen]]|[[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]] | ^Zeit |[[wiki:musse|Muße]] |[[wiki:freiheit|Freiheit]]| ^Leben |[[wiki:einfach_leben|Minimalismus]]|[[wiki:lebensreisestil|Lebensreisestil]]| Autonomiebeschränkend wirken von außen Konventionen, [[wiki:gesetz|Gesetze]] und [[wiki:normen-organisation|Normen]]. Die [[wiki:grenze|Grenze]] zwischen Wollen und Dürfen wird gesellschaftlich unentwegt neu verhandelt. Seit einigen Jahrzehnten gestatten verengte Konventionen weniger als die Normen zulassen. Dagegen wendet sich das [[https://journalofcontroversialideas.org|Journal of Controversial Ideas]] wie die FAZ [[https://www.faz.net/-gyl-a1d0w|berichtete]]. ==== Handlungsleitende Imperative ==== Das »normale« Leben ist begrenzt durch //Dürfen, Sollen und Wollen//. Unauffällig bleibt, wer sich maßvoll in diesem Rahmen bewegt, gerne auf dem Boden der Bequemlichkeit und unter dem Deckel der Mutlosigkeit. Auch die Wirtschaftstheoretiker denken sich den Menschen als ein ökonomisch rational handelndes Wesen, das den **Eigennutz** zur Maxime hat. Dieses Konzept funktioniert außerhalb des Lehrbuchs jedoch nicht so recht. Neben dem //Erlaubten, Verbotenen und Gesollten// finden Ethiker auch Handlungen, die weder Pflicht sind, die niemand von uns erwartet, die weder opportun sind noch belohnt werden oder deren Nicht-Tun bestraft würde; wir (manche) handeln (oft) auch, wenn wir es nicht müssten und wenn wir uns keinen Vorteil erhoffen. Auf diesem vierten Handlungsfeld tummeln sich (nicht nur) **Heilige und Helden** ((''J. Urmson'' //Saints and Heroes// Essay 1958)). Dafür hat sich der Begriff »**supererogativ**« eingebürgert ((Lukas 10, 25–37 »et quodcumque supererogaveris ego cum rediero reddam tibi«\\ ''Marie-Luise Raters''\\ //Einleitung: Jenseits der Pflicht? Einleitende Reflexionen zur Supererogation//\\ Zeitschrift für Praktische Philosophie Band 4, Heft 2, 2017, S. 107–116\\ www.praktische-philosophie.org https:doi.org/10.22613/zfpp/4.2.5)). Wer jedoch //Faulheit und Feigheit// überwindet - wird der nicht auch den Rahmen von [[wiki:gesetz|Erlaubtem, Verbotenem und Gesolltem]] nicht nur dehnen, sondern neu bewerten und vielleicht aufbrechen? Im Denken folgt dies dem Geist der [[wiki:aufklaerung|Aufklärung]], im Handeln birgt es [[wiki:aufbruch|Aufbruch]] und [[wiki:abenteuer|Abenteuer]], dem nicht nur Heilige und [[wiki:held|Helden]] huldigen sondern auch [[wiki:reisende|Reisende]] und Psychopathen. Wer so handelt, bedarf eines neuen Maßstabs, denn um Mensch zu sein müssen Fähigkeiten und Möglichkeiten, Denken und Handeln im Einklang stehen: Der **ästhethische Imperativ** von ''Heinz von Foerster'' lautet daher: »Willst Du erkennen, so lerne zu handeln.« Ähnlich erkannte ''Erich Kästner'' nach dem Ende des Dritten Reiches »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Der **technische Imperativ** von ''Hans Jonas'' ((''Hans Jonas''\\ //Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation//\\ Frankfurt/M. 1979)) verfolgt alleine das Machbare: »Handle so, dass keine der Dir zu Gebote stehenden technischen Möglichkeiten ungenutzt bleibt.« Das Machbare wird damit ausgelotet ohne Rücksicht auf die Folgen, während ''Immanuel Kants'' **kategorischer Imperativ** die wünschbaren (sozialen) Folgen im Blick hat: »Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« ''Hans Jonas'' erweitert das Wünschbare auf die Welt als Ganzes, weil der Mensch auch Verantwortung für seine Umwelt und Nachwelt habe und formulierte den **ökologischen Imperativ**: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« Wer frei sein will, muss beides nutzen, die Grenzen des Denkbaren und Machbaren dehnen. »Handle stets so, dass mehr Möglichkeiten entstehen!« formulierte der Physiker ''Heinz von Foerster'' seinen **ethischen Imperativ** (( //Sicht und Einsicht : Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie//\\ ''Heinz von Foerster''. Autoris. dt. Fassung von ''Wolfram K. Köck''\\ Braunschweig: Vieweg 1985, XI, 233 S. \\ //Über das Konstruieren von Möglichkeiten// 1973 )). Er antwortete in einem Interview mit dem //Sonntagsblatt// auf die Frage: //»Das bedeutet, der Konstruktivismus - verstanden als eine Haltung - ist auch eine Art Medizin gegen den Dogmatismus, gegen ein eindimensionales Denken?«// »Ja, wunderbar! Das gefällt mir! Man könnte auch sagen, daß hier eine Art Tanz mit der Welt versucht wird, der einen zu immer neuen Betrachtungsweisen bringt. Die Beschränkungen und Verflachungen, die diese schreckliche Idee der Ontologie - die Lehre vom wirklich Vorhandenen - mit sich bringt, werden aufgehoben. Es ergeben sich diese und jene Schritte, dann dreht man sich, und plötzlich sieht man etwas Neues, gänzlich Unerwartetes.« Autonomie bringt so die *[[wiki:freiheit|Freiheit]], die *[[wiki:welt|Welt]] neu *[[wiki:wahrnehmung|wahrzunehmen]], sie verändert die *[[wiki:weltanschauung|Weltanschauung]] und erzeugt dasselbe *[[wiki:staunen|Staunen]], das den *[[wiki:reisende|Reisenden]] bewegt. Das Maß an gelebter Autonomie bestimmt, für welche Welt wir uns entscheiden: *[[wiki:real_life_oder_virtual_reality|real life oder virtual reality]]. Eine gelebte Autonomie setzt einen *[[wiki:autarkie|autarken]] Handlungsraum voraus und begibt sich an die Grenze des asozialen Handelns. ==== Asoziale Helden und dogmatische Systembewahrer ==== Der Anspruch ist hoch, der Alltag sieht anders aus und wird bei vielen von der //Bequemlichkeit// bestimmt, von //Zynismus// und //Selbstsucht//. Dadurch lassen sich holzschnittartig drei Gruppen erkennen: * **Bewahrer:** Es gibt eine systemdominante Mittelmäßigkeit, die sich schulterklopfend gerne selbst bestätigt. Dazu gehört auch eine selektive Wahrnehmung: //»Was nicht sein darf, das nicht sein kann«.// Zur Bestätigung gehören die Geilheit auf Anerkennung und der ungehemmte Wunsch nach Prominenz, der sich massenhaft in Selfies bei Instagram anschauen lässt. Die Individualität ist äußerlich, marginal und vorgetäuscht, denn vor den Selfie-Plätzen wartet eine Schlange. Das aus der Werbung bekannte //»Ich will so bleiben, wie ich bin«// bestätigt den bequemen Status Quo; zum Ausweis der Authentizität genügen oberflächliche Schrullen.\\ Abweichler werden nivelliert, etwa durch Konsenszwang bei Entscheidungen, durch Quoten beim Auswählen, durch Bildungsziele (Jeder muss Abitur haben), durch ein Abwerten der »Elite« und eines »deep states«, durch Missachten von Fakten (Beliebtes Gegenargument: »Ich bin aber der Meinung ...«) und ein Aufwerten von Fakes. Systembewahrer bilden das Treibgut im Mainstream, hin und her getrieben von Flurfunk und Lagerdenken, Dogma und Ideologie. * **Influencer** verstehen, wie Systembewahrer und Helden ticken und sind in gewissem Sinne selber Helden, weil sie ihre Fähigkeiten anwenden, das [[wiki:system|System]] zu beeinflussen. Influencer arbeiten in erster Linie mit Gefühlen und zielen auf Meinungen, Einstellungen, [[wiki:illusionen|Illusionen]]. Man findet sie als Werber, Moderatoren, Publizisten, Politiker - überall dort, wo Massen bewegt werden. Das kann man so oder so bewirken. Weil die meisten hören wollen, was sie erwarten, sind sie bereit Botschaften so zu interpretieren, wie sie haben wollen. »Framing« ist das neudeutsche Wort für das Verfahren Botschaften zu verpacken, und Teil »manipulativer Sozialtechniken« wie Priming, Nudging, Targets. Die Kunst des Framing besteht darin, Interpretationen eines Themas subtil in einer Botschaft zu vermitteln (Inklusion) oder auszuschließen (Exklusion). * **Helden ** gehen auf in dem, was sie tun. Und sie tun es gerne, weil sie gefunden haben, was sie gut können. Sie haben den »[[wiki:Möglichkeitssinn|Möglichkeitssinn]]«, gehen neugierig an Grenzen und überschreiten sie manchmal auch. Das gilt für die »Helden des Alltags« ebenso wie für viele Reisende oder die berühmten Abenteurer. Der Philosoph ''Wolfram Eilenberger'' nennt sie »soziale Störenfriede«, deren Talente und Sehnsüchte sie weit aus ihrer Handlungsgemeinschaft herausragen lassen. Er beschreibt sie unter der Überschrift »[[https://www.zeit.de/kultur/2018-09/elite-exzellenz-gesellschaftliche-bedeutung?page=2#comments|Asozial, autonom, autark]]« ((''Wolfram Eilenberger''\\ //Asozial, autonom, autark//\\ Die Zeit 24. September 2018. Hier fokussiert auf »Gründer« und »Elite«.)) Helden motivieren sich von innen über Selbstachtung (intrinsich), Systembewahrer werden von außen motiviert über Anerkennung (extrinsisch), Influencer motivieren sich über Machtgefühle. ==== Perspektive und Welt ==== Selbstbestimmung findet ihren Sinn, weil sie sich auf eine Perspektive richtet, auf die Position in der *[[wiki:welt|Welt]]. * Unerlässlich ist dazu die *[[wiki:neugier|Neugier]] als hinausziehende Kraft. Wer stattdessen glaubt, alles zu kennen und zu wissen betreibt die Gamification der Wirklichkeit. * Unerlässlich ist die [[wiki:offenheit|Offenheit]] für neue Erfahrungen und damit verbunden die Bereitschaft, *[[wiki:risiko|Risiken]] einzugehen. * Unerlässlich ist die Fähigkeit zu *[[wiki:staunen|Staunen]] über das *[[wiki:staunen_fremdheit_neues_neugier|Neue]] und Unerwartete, das außerhalb der Bequemlichkeitszone zu finden ist. Mit einer solchen Perspektive übernehmen wir Verantwortung für die Welt, da sie ein Teil von uns wird. ''Hannah Arendt'' führte diesen Gedanken zu Ende (//Vita activa oder Vom tätigen Leben//, 1960) und meinte: //Arbeiten, Herstellen und Handeln// sind Tätigkeiten, die dem Menschen eignen und ihn in der Welt einzigartig machen. Also kann der Mensch nur in Ausübung dieser Tätigkeiten gemeinsam mit anderen Menschen seinem Leben einen Sinn geben. Dieser Sinn kann jedoch nicht darin bestehen, in der Routine zwischen Arbeit und Konsum gefangen zu bleiben, in stetiger Bestätigung des Gewohnten und Erwartbaren. Solches //Nichts-wissen-Wollen von der Welt// wäre ziellos, planlos, perspektivlos. Damit gäbe der Mensch seine Zukunft auf. »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.« Weder von ''Martin Luther'' noch eine chinesische Weisheit, jedoch passend ((//„Mit Luther hat der Spruch nichts zu tun“.// ''Reinhard Bingener'' spricht mit dem Theologieprofessor ''Martin Schloemann'' FAZ 15.04.2017)).